Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
ihre Wunde nicht heilen, solange das Blei in ihrem Leib
war. Wahrscheinlich steckte das Geschoss in ihrer Leber. Sie würde weiter bluten und bald ohnmächtig werden. Die Kugel musste heraus! Sofort! Sie bohrte einen Finger in die Wunde. Tränen traten ihr in die Augen, als sie den Schusskanal erfühlte, um herauszufinden, wo die Kugel sein mochte. Sie tastete weiter … und konnte das verfluchte Metall nicht erspüren. Es steckte zu tief. Und es saß nah bei einer großen Ader. Wenn sie versuchte, es herauszuschneiden, genügte eine winzige falsche Bewegung, ein leichtes Zucken nur, und sie wäre binnen dreißig Herzschlägen tot. Und wenn sie nichts tat? Dann blieben ihr vielleicht noch dreitausend Herzschläge … Ihr Finger in der Wunde verlangsamte die Blutung. Stillen konnte er sie nicht. Verfluchtes Blei! Verfluchte Launenhaftigkeit! Sterben für einen Kessel voll mit halbgarem Murmeltierfleisch. So hatte sie sich ihr Ende nicht vorgestellt. Sie lachte. Stechender Schmerz ließ sie verstummen.
Sie hatte Gishild ein Versprechen gegeben. Sie durfte jetzt nicht sterben! Niemand würde die Prinzessin in Valloncour suchen. Die Fährte führte zum Grab in Aniscans. Wer außer ihr würde erkennen, dass dort die falsche Tote lag? Sie musste eine Nachricht hinterlassen!
Weniger als dreitausend Herzschläge. Silwyna versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Blut oder Ruß würde der Regen bald vom Fels waschen. Sie zog ihren Dolch. Wer würde sie hier oben finden? Sie hätte nicht allein losziehen dürfen!
Es war keine Zeit mehr für Selbstmitleid! Erst die Nachricht! Und dann würde sie die Wunde versorgen. Sie würde nicht zittern, die Kugel herausholen und sich heilen. Ihre Magie war stark. Sie war stark! Sie war eine Maurawani …
Der Silberstahl des Dolchs kratzte über den Fels. Zwei Worte, vielleicht drei. Mehr Zeit blieb ihr nicht. Verdammtes Blei!
Sie durfte Gishild nicht enttäuschen!
Silwyna dachte an Kapitän Ronaldo und den Erzverweser Charles. Fast war sie versucht, an den zynisch lächelnden Schicksalsweber Luth zu glauben. Die beiden Menschen hatten in den letzten Augenblicken ihres Lebens verzweifelt versucht, sich ihr mitzuteilen, um ihre Qualen zu beenden. Und nun suchte sie nach Worten, die nicht länger waren als die kurze Spanne, die ihr noch blieb.
Ihre Kraft reichte fast nicht mehr, um den Fels zu ritzen. Sie sollte nun das Blei herausschneiden. Sie tastete nach ihrem Rücken. Der Winkel war ungünstig, um den Dolch anzusetzen. Ihr war übel und schwindelig. Und es war kalt. Zu viel Blut verloren, dachte sie. Und sie erinnerte sich an die schwieligen, schlanken Hände, die ihren Nacken liebkost hatten. Hände wie die von Alfadas. Selbst die Stimme von Alvarez hatte fast so geklungen wie die ihres Liebsten, der vor beinahe einem Jahrtausend im Kampf gegen die Trolle gefallen war. Ob auch Menschen wiedergeboren wurden? Unter all den Männern, denen sie sich hingegeben hatte, war Alvarez der Einzige, der wie Alfadas gewesen war. Sanft und stark zugleich. Geheimnisvoll …
Die Dolchspitze tastete in ihr Fleisch. Sie konnte spüren, wie sie die Bleikugel berührte. Ihre Stirn ruhte auf dem rauen Fels. Sie spürte wieder die Berührung der Hände im Nacken. Ihre Knie gaben nach. Vergangenheit und Gegenwart waren eins. Ihr endloses Leben nur wie ein Atemzug. Alfadas würde wieder bei ihr sein, war ihr letzter Gedanke.
EINE FRAGE DER EHRE
»Ja, was Luc getan hat, war revolutionär!«
Lilianne blieb vor dem Tribunal der drei Richter stehen und sah sie der Reihe nach an.
Auch Luc versuchte in den Gesichtern der Ritter zu lesen. Er hatte Angst. Die drei saßen dort mit versteinerten Mienen. Er hatte gewusst, dass es großen Ärger geben würde. Insgeheim hatte er mit so vielen Schlägen auf die Fußsohlen gerechnet, dass er für eine Woche nicht mehr würde laufen können. Aber das war es ihm wert gewesen. Doch mit einem Mal ging es um sein Leben! Und keiner der drei Richter des Tribunals hatte empört oder auch nur überrascht gewirkt, als sein Ankläger gefordert hatte, ihn im Morgengrauen im Hof der Ordensburg hängen zu lassen.
»Ich habe den Krieg in Drusna geführt, meine Brüder!«, fuhr Lilianne fort. »Und ich weiß, wie umstritten mein Vorgehen noch jetzt ist. Aber dieser Krieg dauert nun schon dreißig Jahre. Wir brauchen Ritter, die denken wie Luc. Seit fast fünfzig Jahren tanzen die Novizen auf den Ketten über dem Schlamm. Ein halbes Jahrhundert, in dem die Regeln unverändert
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