Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
oben in seinem Geäst musste es breite, hölzerne Gerüste geben, auf denen in Decken gehüllt die Toten aus dem nahen Dorf ruhten. Und von jedem der Gerüste hing ein Windspiel. Sie waren aus Holz oder Messing gefertigt. Die Bewohner Drusnas glaubten, dass die Geister ihrer Ahnen mit dem Wind ritten und über sie wachten. Und mit den Windspielen schenkten sie den Geistern eine Stimme. Es gab Priester, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, in den Totenhainen zu lauschen und den Lebenden die Botschaften der Dahingeschiedenen zu überbringen.
Gishild zitterte vor Erleichterung. Sie schob den schmalen Elfendolch wieder zurück in die Scheide. Auch wenn ihr bewusst war, dass überall im Geäst um sie herum Tote aufgebahrt liegen mussten, war die nagende Angst verflogen. Fürchten musste man nur das, was noch lebte. Vor Toten
Angst zu haben, war ein Aberglaube, der die Sinne verwirrte, hatte Silwyna sie gelehrt.
Die Prinzessin suchte nach dem Pfad im hohen Farn und folgte ihm. Sie ahnte jetzt, wohin der Weg sie bringen würde. Doch wer war vor ihr hier gelaufen? Und welches Ziel mochte er haben?
Begleitet vom melancholischen Lied der Windspiele, schritt sie voran. Noch immer achtete sie darauf, dass sie so gut wie möglich in Deckung blieb. Und dann sah sie ihn, den Waldtempel. Er wuchs aus einem sanften Hügel, der sich unvermittelt aus dem Meer aus dunklem Farn erhob. Dicht an dicht standen dort enthauptete Bäume. Man hatte ihre Kronen gekappt, sodass ihre Stämme nun wie mächtige Säulen wirkten, die den Himmel trugen.
Manche der Baumstümpfe waren bedeckt mit Schnitzwerk. Ineinander verschlungen zeigte das knochenbleiche Holz Menschen und Tiere, Blüten, Bäume und jene seltsamen Schriftzeichen, die allein die Priester Drusnas zu lesen vermochten. Und diese bissen sich lieber die Zunge ab, als die Geheimnisse ihrer Ahnen mit Fremden zu teilen.
Zwischen den Stämmen waren Wände aus bunt bemalten Brettern oder kunstvoll miteinander verschlungenen Weidenruten errichtet. Sie bildeten ein Labyrinth, das den Blick auf das Herz des Tempels verstellte. Von den Bäumen, die dem Heiligtum am nächsten standen, hingen Stoffstreifen aus den Gewändern der Toten, Trinkhörner, Waffen, die Kämme von Frauen, Kinderspielzeug. Gishild entdeckte sogar einen großen, kupfernen Topf, in dem man eine Suppenkelle wie einen Glockenklöppel befestigt hatte. Wenn er sich im Wind wiegte, dann ertönte ein geisterhafter Klang, und Gishild fragte sich unwillkürlich, ob die Toten sie warnen wollten.
Auf dem Pfad zum Tempel fand sich keine weitere Spur.
Hatte vielleicht doch nur ein verirrter Wachsoldat den Fuchs aufgescheucht? Gishild zögerte, zwischen die bleichen Baumstämme zu treten. Was verbarg sich im Herzen des Tempels?
Auch wenn die Fjordländer nun seit vielen Jahren mit Drusna verbündet waren, blieb ihnen die Religion ihrer Freunde ein Rätsel. Nie wurden sie zu den Festen eingeladen, die man verborgen tief in den Wäldern feierte. Es hieß, dass sich die Männer Tiergeweihe aufsetzten und die Frauen nackt im Mondlicht tanzten, während die Geister der Ahnen auf den Windspielen schaurig schöne Melodien spielten.
Der stachelige Klumpen in Gishilds Bauch schien sich zu regen. Ein Schauer überlief sie. Der Mann, der den Fuchs aufgescheucht hatte, war dort drinnen im Tempel. Sie wusste es einfach! Und er sann über ein Unheil nach, das ihren Vater treffen würde. Sie hatte keine Wahl, sie musste dort hinein, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Die Prinzessin biss die Zähne zusammen. Falsch! Sie war zu angespannt. Silwynas Stimme hallte in ihren Gedanken. Sie musste offen sein. Mit all ihren Sinnen musste sie in sich aufnehmen, was um sie herum geschah. Gishild zwang sich dazu, tief und regelmäßig zu atmen. Sie streckte ihre Glieder und schüttelte die Anspannung ab. Dann trat sie zwischen die enthaupteten Bäume.
Dumpfer Modergeruch stieg aus dem Boden des Hügels. Sich übereinanderwindende Wurzeln ließen kaum einen Flecken der dunklen Walderde sehen. Gishild setzte jeden Schritt mit Bedacht. Sie durfte nicht straucheln. Kein Geräusch durfte sie verraten. Hier lauerte ein heimtückischer Feind.
Wolken löschten das silberne Himmelslicht. Der Wind griff kräftiger nach dem Geäst der Totenbäume. Die Stimmen der Geister wurden lauter.
Wände aus Weidenruten und grauen Brettern lenkten Gishilds
Schritte. Sie hatte das Gefühl, in ein gewundenes Schneckenhaus eingedrungen zu sein. An manchen Stellen rückten
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