Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
ihrem Hals.
»Du warst also doch da.« Er fühlte an seinem Kopf, dass sie nickte.
»Ich wusste es«, sagte er, und es kam ihm dies alles wie ein Traum vor, fehlten nur Notre Dame, Akkordeonmusik.
»Erzähl mir von deinen Kindern«, bat er.
»Warum?«, flüsterte sie, fast ohne Stimme.
»Weil du sie liebst.«
Sie seufzte, ihre Brust und mit ihr sein Kopf hoben sich, sanken wieder. Dann schob sie ihn weg, setzte sich auf, Blick zum Fenster, die Arme um den Oberkörper geschlungen. »Es ist eine Illusion, Thomas«, sagte sie. »Nichts bleibt.« Er sah ihren Kopf von der Seite, die großen Augäpfel, die, wie er jetzt dachte, etwas hervorstanden. Der Schein der flackernden Kerzen tastete unruhig über ihre Wange, sie blinzelte mehrmals, bevor ihr Blick fast regungslos, sanft wurde, als hätte er bereits alles gesehen, während sie weitersprach.
»Wenn man jung ist, dann ist das Leben ein Gewirr von tausend Möglichkeiten«, sagte sie, »ein Gewimmel von tausend Wegen, einer vielversprechender als der andere, und du denkst, dass du sie alle gehen kannst. Wenn dir einer nicht gefällt, kehrst du um und suchst dir einen anderen, alles ist hell und freundlich. Alle Türen sind offen, dahinter ist Licht. Je älter du wirst, desto mehr Türen fallen zu, Wege verschwinden, sind einfach nicht mehr da, oder du findest sie nicht wieder, wie im Märchen, wo plötzlich meterhohe Dornbüsche wuchern.« Sie lächelte jetzt. Ihre Stimme klang tiefer als sonst, gerader, mit weniger Singsang, sie passte plötzlich zu ihrem Blick. »Und die Zeit rast ja«, fuhr sie fort, »sie überholt dich auf deinem Weg, denn du trittst auf der Stelle, nur dass du immer älter wirst, es ist eher so, als ob man unter deinen Füßen den Boden wegzieht, immer weiterzieht, obwohl sich nichts ändert, oder es ändert sich zum Schlechteren, fast unmerklich ändert sich jeden Tagalles zum Schlechteren, du kannst die Zeit nicht zurückholen, du verlierst immer mehr Illusionen, jeden Tag eine andere kleine Illusion«, sie senkte den Kopf, rieb mit dem Kinn über ihre Schulter, »und es ist nun einmal so, es ist ein Trugschluss: Deine Kinder sind keine Lebensversicherung, sie können deine Leere nicht ausfüllen, es überfordert sie, kein Kind kann seine Eltern retten, und niemand kann das Leben seiner Kinder leben.« Sie schwieg, ihr Gesicht wandte sich in die Dunkelheit des Gartens.
»Aber du liebst sie, das ist das Wichtigste«, sagte er.
Zwei stille Minuten vergingen.
»Wir verlieren, was wir lieben«, flüsterte sie. Drehte sich zu ihm, ihre Augen glitzerten, vielleicht das Kerzenlicht, sie nahm seinen Kopf in beide Hände, zog ihn zu sich und küsste ihn, ließ dann eine Hand unter das Laken gleiten, über seine Brust, seinen Bauch, sie tauchte mit dem Kopf hinab, eine köchelnde Welle floss über seine Hüften, aber bevor er kam, zog er sie zu sich, er wollte ihr Gesicht betrachten, als er in sie eindrang, sie saß auf ihm und schloss keineswegs die Augen, sondern sah ihn an, während sie sich bewegte, Hände in seinem Haar, die Blicke ineinander versenkt, dann hielten sie beide inne, er hörte auf zu atmen, sah ihre halb geschlossenen Lider, die sich dann weit öffneten, als staunte sie, die Brauen, die sich zueinander hoben, während sie ihr Becken gegen ihn presste mit einem tiefen Seufzer, ihr Bauch flatterte, hob und senkte sich in Wellen, ihr Körper spannte sich und entspannte sich, sie umarmten sich heftig, blieben noch lange schweigend so liegen. Es war das letzte Mal.
IHR BLÜMLEIN ALLE
Aber es war ja kein Traum, stellte er fest, es konnte durchaus kein Traum sein, denn es hingen ja seit jener Schneenacht die Kleider von Dr. Volker Hermanns in seinem Schrank, da er am Morgen die eigenen nicht gefunden hatte. Nicht im Badezimmer, wo er sie ausgezogen hatte, nicht im stillen Flur, nicht im Wohnzimmer, wo sich das Tageslicht als eine Reihe blasser Quadrate hinter den Vorhängen abzeichnete. Eine Ahnung von ihrer Einsamkeit bekam er da, wie er in der riesigen Diele stand und vergeblich seine Kleider suchte, in einer immensen Stille, in der nur ein paar undefinierbare elektrische Geräusche klackten und fiepten, aus der Küche vermutlich, das Surren irgendwelcher Zeitschaltuhren. Gefunden hatte er dagegen einen Zettel auf dem Küchentisch, das Frühstück sei für ihn, schrieb sie, Brötchen, Ei, Kaffee in der Warmhaltekanne, sie küsse ihn, habe aber einen dringenden Termin, außerdem müsse sie für die nächsten zwei Wochen verreisen.
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