Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
ehrliche Person.
Er steht, die Hand an seinem Hinterkopf. Sie sitzt. Vor ihr auf dem Tisch verschwimmt der Teller mit den Tomatenresten zu einem weißroten Fleck auf der Tischdecke. Weint sie etwa?
»Ich will kein Kind«, sagt er leise, immer noch mit dem Rücken zu ihr, mit gesenktem Kopf, »ich will dich.«
Betty starrt auf den Tellerfleck, der inzwischen größer wird und auf den es zu tropfen beginnt, und ihr Gesicht der Strenge zerbricht, ihr weinender Mund zersprengt alle Form, dann ist er bei ihr, kniet bei ihr, umarmt sie, lässt sie weinen an seiner Schulter, streichelt nur ihr Haar, redet nicht, und sie weint und weint um des Weinens willen, als müsste sie Jahre des Nichtweinens nachholen.
Später essen sie doch noch die Salbeischnitzel, aber in den Schubert gehen sie nicht, und Alfredo hat folgende Überraschung:Er hat von einer Wohnung in den Quartieri gehört, es ist eine Wohnung, nicht allzu groß, aber mit Dachterrasse, schwärmt er, ohne Aufzug, mit Tauben im Innenhof und marmornen Teufelchen auf Gesimsen und einem Gestrüpp von Antennen und Parabolspiegeln und Vesuv und Schiffsverkehr in der Ferne und und und. Außerdem liebt er sie, sie ist eine bescheuerte Zicke manchmal, sagt er, Hand an ihrer Wange, »du auch«, sagt sie mit brennenden Augen und lacht, aber er liebt sie.
EINE AFFÄRE IN GENUA ODER:
OSTERHASEN-HOLLER
Der Selbstmord macht keinen Sinn. Der Selbstmord ist auch keine Lösung, denkt Holler, aber er ist ein Ende. Ein Ende, das einen vom zwanghaften Findenmüssen von Lösungen befreit. Wie das Klingeln der Schulklingel am Ende einer nicht enden wollenden Mathematikprüfung. Man weiß, man wird eine Sechs bekommen, aber man ist froh, dass es vorbei ist. Einfach nur froh. Eventuell wäre es sinnvoller gewesen, wenn die Schulklingel nicht geklingelt hätte, wodurch man sich weiterhin um die Rechnungen hätte bemühen können und eventuell eine Drei minus nach Hause gebracht hätte, statt einer Sechs, andererseits, im Rückblick betrachtet, denkt Holler, hat dich die Sechs auch nicht umgebracht. Sie hat im Nachhinein genauso viel Sinn gemacht wie die Drei minus, hat zu genauso viel oder wenig geführt wie alles andere auch.
Einen rationalen Grund kann Holler für das Vermeiden des Selbstmordes also nicht finden, wie er es auch dreht und wendet und von welcher Seite des vielseitigen Themas er es betrachtet,was er ja oft genug getan hat. Der alleinige Grund, am Leben zu bleiben, ist, dass Entscheidungen nie endgültig sind. Dass man sich das Leben nimmt und es hinterher vielleicht bereuen könnte. Sicher ist es auch denkbar, denkt Holler, dass es im Nachhinein oft die falsche Entscheidung gewesen sein wird, am Leben geblieben zu sein, wenn man im Rückblick über dasselbe wird sagen müssen, dieses und jenes schwere Leid hätte vermieden werden können, diese und jene Krankheit, Verlassenheit, ein erbärmliches, menschenunwürdiges Dahinvegetieren. Aber schon ein glücklicher Tag würde vielleicht alles aufwiegen. Oder eine Woche? Man weiß es nicht, und deshalb vermeidet man die Entscheidung. Man nimmt sich das Leben nicht, man sitzt es aus. Und er, Tom Holler, weiß das auch, weil er sich schon oft über diese Frage Gedanken gemacht hat, kein Selbstmordgedankenanfänger, eher ein Selbstmordgedankenroutinier ist, der immer zum gleichen Schluss kommt.
Das Licht ist trübe. Holler würde gerne eine Zigarette rauchen, aber er möchte die flammenhaarige Maren, die die Fensterseite des Doppelbetts füllt, sie möchte er nicht wecken. Sie hat sich umgedreht, ihr Gesicht ihm zugewandt, mit den geschlossenen Lidern, den bürstenartigen hellroten Wimpern. Es ist noch früh offenbar, Berufsverkehr rollt vor dem Fenster, Fasern von Morgenlicht hängen an den Wänden. Niemals, denkt er, hätte er das Zeug getrunken, auch wenn B. M. nicht angerufen hätte. Oder er hätte es getrunken, wäre aber sofort mit Blaulicht in die Klinik gerast, wo sie ihm den Magen ausgepumpt hätten, und vielleicht wäre die ihn auspumpende Ärztin jung, hübsch und blond gewesen, und man hätte sich verliebt, hätte geheiratet und bis ans Lebensende in einem Schloss gemeinsam gewohnt. Maren schläft leise. Ihr Haar ist auch inder Dämmerung feuerrot. Oder er hätte es getrunken, aber es hätte nicht gewirkt, nur wäre er müde geworden, immer ein wenig müder, aber lebendig, wie in einem Traum vom Sterben, denn nur das Vorstellbare existiert, der Tod aber ist nicht vorstellbar.
Vor dem Fenster rauscht Berufsverkehr
Weitere Kostenlose Bücher