Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Stipendienvernichter, kokettiert neuerdings mit Barjazz! Das macht sich womöglich gut in einer Komponistenbiographie, einsames Genie, das aus Donau-Eschingen ausreißt und lieber bei einem Schafbauern zu Abend isst, wo gerade die Hitparade im Fernseher läuft.«
»Wetten, dass …?«, präzisierte Marc. Zögernd wurde gelacht. Man kochte Kaffee. Tom entschuldigte sich für seinen Stipendienvernichter (den Marc aber gut fand), denn insgeheim war er ja froh, dass sein Marc zurückgekehrt war. Sie würden sich im Probenraum einschließen, bis das Ticken der Zeit aufhörte.
Und Morgenthal? Sie, die eben noch verschlüsselte, unverstandene Liebesbotschaften an eine ganz andere Adresse gerichtet hatte, saß fast auf Baldurs Schoß, ein Bein hatte sie über seine geschlagen, streichelte seinen Nacken und sandte Liebesblitzlichtgewitter aus den Augen, wonach – auch vom Aussichtsplateau der Gegenwart aus betrachtet – ganz unübersehbar er es war, in den sie immer verliebt gewesen ist, nicht Holler, verständlicherweise. Auch er selbst hätte sich, vor die Wahl gestellt, immer in Baldur verliebt, niemals in Holler. Also hat er nichts missverstanden damals, hat nichts überhört. Kurz will er erschrecken vor einem Gedanken, der ihm kommt, dem er folgen könnte, aber er zögert, denn es ist ein dunkler Weg, den er einschlagen müsste, und er steuert daran vorbei. Auch weil indiesem Augenblick Maren aufwacht und er schnell die Augen schließen muss, damit sie ihn nicht sieht.
Maren im Hotelbett schlägt das Laken zurück, setzt sich auf, bleibt kurz auf der Bettkante sitzen, streicht sich mit beiden Händen das Haar zurück, diese Masse, die nicht aus einzelnen Haaren besteht, sondern eine rote Gesamtheit ist, sie legt die Hände in den Schoß und bleibt weiterhin sitzen. Tom sieht ihren weißen Rücken im Morgenlicht, die Hügelchen der Wirbelsäule, die mageren Schultern, dann dreht sie ihren Kopf, und Holler schließt schnell die Augen, denn er schläft noch. Er sieht nicht, wie Maren aufsteht – Straßenlicht gleitet über ihre nackten Schultern –, er sieht nicht, wie sie ins Badezimmer geht, wie sie anschließend ihre Kleidungsstücke zusammensucht, die hier und dort verstreut sind, genug Gelegenheit, um aufzuwachen. Auch macht sie einmal aus Versehen ein wenig Lärm, als sie mit dem Fuß gegen den blechernen Papierkorb stößt, sich dann erschrocken zu ihm umwendet. Aber, keine Sorge, Holler schläft. Er sieht nicht, wie sie aus ihrer Umhängetasche ein kleines Stück Papier heraussucht und einen Stift, sieht nicht, wie sie auf dieses kleine Stück Papier mit Kugelschreiberkratzen etwas hinschreibt, wie sie das kleine Stück Papier auf das Fernsehtischchen legt, sieht nicht, wie sie ihre Jacke vom Stuhl nimmt, zur Tür geht, dann zögert – hat sie etwas vergessen? – und wieder zum Fernsehtischchen zurückkehrt, wie sie den Zettel in die Hand nimmt, ihren Kopf zum schlafenden Holler wendet, dann wieder den Zettel ansieht, dann wieder Holler (der gar nicht hinterherkommt mit Augenschließen), und den Zettel dann doch zurücklegt. Als Holler das nächste Mal die Augen öffnet, ist sie verschwunden.
Auf dem Papier steht eine Telefonnummer und sonst nichts,Handynummer. Auf der Rückseite der Ausschnitt eines Computerausdrucks, mit dem Holler noch weniger anfangen kann: »ntwicklung des Sehparadigmas und dessen Transformation«, ist zu lesen, darunter »außerseelisches objektives Phänomen«, darunter »perspektivisches«, offenbar ein Ausschnitt ihrer Arbeit. Er nimmt an, dass es eher die Handynummer sein wird, die für ihn bestimmt ist, wodurch er jetzt zwei Handynummern hat, aber kein Netzteil.
SCHEISSZEIT
Der Zug eilte nach Süden, die Stadt Genua aber zog sich immer weiter in den Norden zurück, verlor sich, und bald schon bezweifelte Holler ihre Existenz. Es gibt Städte, Dinge, Personen, dachte er, die, kaum ist man ihnen begegnet, auf direktem Weg in die Räume der Vergangenheit wandern, sich darin auf gepolsterten Wartezimmerstühlen niederlassen und geduldig Ruhe geben, bis sie von der Erinnerung irgendwann wieder einmal aufgerufen werden oder auch nicht. Genua saß schon jetzt darin mit übergeschlagenem Bein und blätterte in einer Illustrierten. Aber es gibt keine Wartelisten, keine Nummern, die zu ziehen wären. Die Erinnerung, dachte Holler, ist kein Bürgeramt, sie ruft nicht ordentlich eins nach dem anderen auf, sondern dasjenige, was ihr gerade einfällt, willkürlich, ungerecht, wodurch
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