Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
halten.
Und er hielt den Mund. Aber er sah sie lange an, Betty Morgenthal auf dem alten Liegestuhl sitzend, in seinem Bademantel, seine Wollsocken an ihren Füßen, und hinter ihr, als eine Grundierung, die eigens für sie geschaffen zu sein schien, das schwarze Geflecht der Antennen, durch das der Himmel glomm.
»Bitte?«, fragte er, als könne er ihre Worte nicht mit ihrer Erscheinung assoziieren.
»Die DNA will überleben, auch im Mittelalter, das ist alles messbar.« Sie sandte einen unschuldigen Blick unter einem Wimpernschlag hervor, denn sie konnte ja nichts dafür. ErsteSterne flimmerten, und wie gespiegelt im weiten Stadthimmel zum Meer hin erste Lichter.
Alfredo ging ein paar Schritte auf und wieder ab. Dann blieb er stehen, strich sich mit der Hand langsam über den Hinterkopf, blickte auf den Terrassenboden, wo er etwas entdeckte, einen Weinkorken, den er aufhob, in den Fingern drehte, dann in die Hosentasche steckte. »Tja«, sagte er. »Die Frage ist nur, was vorher da ist: Die Liebe oder die messbaren Neuronenströme. Das könnt ihr nämlich nicht beweisen, welches nun die Folge wovon ist.«
Bevor sie etwas antworten konnte, klingelte es an der Tür. Freunde kamen zu Besuch, um Alfredos bestandene Disputation zu feiern. Es wurde ein langer lustiger Abend, an dessen Ende Telefonnummern ausgetauscht wurden. Denn schließlich hatte sie ja noch seine Kleider. Auf dem Nachhauseweg, als das Taxi durch die glänzende Nacht bog, blitzte wie ein vorüberhuschendes Laternenlicht vor Betty die Möglichkeit auf, ein anderes Leben zu leben, das alte mit der Schere abzuschneiden, neu anzusetzen.
Alfredo hatte sie aufgehoben, hatte sie beim Umzug mitgeschleppt, die »Betty-Kleider«, wie er sie nannte, obwohl er sie längst nicht mehr trug, ein sentimentaler Mensch, obwohl Kommunist, aber eben auch Petrarca-Leser. Ob er auch Gewalt anwenden würde, hatte ihn Betty einmal gefragt, wenn er dadurch seinen Weltkommunismus durchsetzen könnte, sein irdisches Paradies voller Petrarca- und Adorno-Leser, und da musste er kurz zögern, bevor er verneinte, Pazifist ja, aber nicht in allererster Linie. Aber eben dann doch wieder einer, der aufgrund einer sentimentalen Erinnerung Kleider aufbewahrte, dieer nicht mehr trug, und nicht etwa deshalb, weil er ein unordentlicher Mensch wäre, der alles Mögliche in seinen Schränken übersähe und deswegen dort viele Jahre lang beließe, sondern einer, der beim Umzug in den Vomero diese Kleidung aus dem Schrank holte, sie zusammenlegte, sie glatt strich und sie dann im Vomero als eines der ersten Dinge wieder auspacken würde, sobald der Schrank aufgestellt wäre. (War er aber noch nicht.) Dazu noch einer, der andere vorm Ertrinken rettete. Denn sicherlich, sie dachte es manchmal, wäre sie ohne ihn ertrunken, aber das hatte sie ja in Kauf genommen, zu schwimmen, eventuell unterzugehen, denn niemand rechnete mit einem Alfredo Sandri, der einen aus den bodenlosen Tiefen dieser Stadt, dieser treibenden Existenz zog und in ein trockenes Taxi setzte.
Manchmal fragte sie sich für einen Augenblick, ob er hinter ihrem Anästhesistinnen-Dasein Weiteres vermutete, ob er diese äußere Schicht durchblickte, die inzwischen längst zum Eigentlichen geworden war, ob er hindurchschaute an manchen Abenden, wenn sie, lesend, einander gegenübersaßen, er ab und zu aufblickte, ihr Gesicht betrachtete, zärtlich, aber suchend, so als meinte er, noch nicht alles an ihr zu kennen, oder mitten bei einem Abendessen im Kreis von Freunden, zwischen Pasta und Secondo, wenn sie mit einer neuen Flasche Wein aus der Küche zurückkam, er sie dann im Türrahmen entdeckte, als sähe er sie zum ersten Mal.
An einem Donnerstag, es ist der Donnerstag nach dem Mittwoch, an dem Betty mit ihrem Kollegen Carlo Vitelli abends essen war, der Donnerstag, genau fünf Tage bevor Tom Holler mit seinem Jazzquartett in Neapel ein Konzert geben wird, dasbereits halb ausverkauft ist, wie Betty erfahren hat, an diesem ansonsten gewöhnlichen Donnerstag kommt Alfredo Sandri, derjenige, der sie sieben Jahre zuvor aus dem Wasser gefischt hat, zufällig mit zwei Konzertkarten an. Er weiß, dass sie sich nicht besonders viel aus romantischer Liedmusik macht, aber er hat die Karten von einem Kollegen aus dem Klassikressort, der nicht hinkann, es sind gute, teure Karten, die man nicht verfallen lassen darf, für das Teatro Sannazaro, wo ein weltberühmter deutscher Tenor die »Winterreise« singen wird. Außerdem haben sie sich
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