Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
räuspernd.
»Ja?«
»Hallo, Papa.«
»Ja, Thomas?«, sagte er. Er telefonierte nicht gern, hatte noch nie gerne telefoniert, sein Beruf musste jeden Tag eine Tortur für ihn gewesen sein, tagaus, tagein am Telefon. Wo er am liebsten saß und schwieg, eigentlich.
»Ich wollte fragen, ob das Auto noch da ist.« Tom wusste, dass es noch da war, obwohl das neue längst in der Garage stand.
»Ja«, sagte der Vater.
Er würde es gern ausleihen, sagte Tom. Für zwei Wochen, siegingen auf Tour mit der Band. (Tom überlegte, ob der Vater überhaupt etwas von der Band wusste, während er sprach, »mir gehe auf Tour«, sagte er, »für zwei Woche«.) Aber der Vater fragte nicht nach, sagte nur, »so«, dann »ja« (mit kurzen Vokalen), denn unter der Tour und der Band hätte er sich ohnehin nicht wirklich etwas vorstellen können. Aber er freute sich, dass Tom sein Auto benutzte. So hatten sie etwas Gemeinsames. Auch wenn er es nicht zeigte, auch wenn er brummte und etwas von Kundendienst sagte, von Keilriemen. Er zeigte es nicht, aber Tom hörte es am Geräusch seines Einatmens, am Raumklang des ganzen Hauses, er konnte die Helligkeit hören, die in diesem Haus plötzlich knisternd durch die Vorhänge brach.
Marc und Tom bestanden ihre Prüfungen, sie feierten zwei Tage lang, obwohl es eigentlich nichts zu feiern gab. Sie ahnten, dass jetzt das Alter daherkommen würde, und Tom, der seine Kreuzfahrt (Alptraum jedes Musikers und Alterungsbeschleuniger Nummer 1) heimlich um zwei Monate verschoben hatte, denn auch zwei Monate später würde glücklicherweise ein Schiff, nicht Mary II, sondern Carolina II, in See stechen, Tom sagte, das Altern beginne andererseits schließlich schon mit der Geburt. Leben sei Altern, sagte er philosophisch, allein der Tod beende das Altern, bestätigte Marc, und sie standen vor dem Spiegel und entdeckten beide am anderen ein graues Haar, das sie sich gegenseitig ausrissen.
Anfang Mai fuhren sie los. Mit dem Zug nach Fulda, mit dem Bus nach Aschberg/Rhön, wo Gerhard Holler mit dem Auto, frisch gewartet und geputzt, vor dem Gartenzaun stand. Den Keilriemen hatte er machen lassen, sagte er. Zeigte Tom dies und das, öffnete die Motorhaube, deutete hier, deutete da. Tom, dessen Blick am Wassertank vorbei auf die Straße fiel, sahBettys nackte Beine, um die ein Rock schwankte. Und da bereute er es schon, dass er das Auto lieh, dass sie anschließend mit den Eltern Kaffee tranken, dass er überhaupt auf diese Tour ging und nicht auf die Mary II, wo die mintfarbene Witwe jetzt ganz allein war und in den Sonnenuntergang starrte.
Er bereute es, aber er kehrte nicht um. Stattdessen fuhr er nach Würzburg, Nürnberg, München, Rosenheim. Meist fuhr er selbst, um sich ja nicht neben Morgenthal auf die Rückbank quetschen zu müssen. Dann saß Marc bei ihm vorn, die Karte lesend, oder Tom las und Marc fuhr, sie hörten Musik, sie redeten, sie sangen, sie schwiegen, während hinten geschlafen und es über ihnen Nacht wurde und neben ihnen die leuchtenden Mittelstreifen der Straße vorüberflogen. Er sah Betty im Rückspiegel neben Ulrich, ihren schlafenden Kopf, an die Scheibe gelehnt, in der Bewegung etwas vibrierend, mit leichtem Doppelkinn. Und er liebte sie überhaupt nicht in diesem Moment, er fühlte sich leicht, einige Zentimeter über dem Boden rasend, den Scheinwerferkegeln hinterher in die unendliche Nacht, so könnte er ewig fahren, er würde auf kein Kreuzfahrtschiff müssen, nicht in die Wüste von Alexandria, und Marc legte Nick Drake ein, »Time Has Told Me«.
Aber man kann niemandem trauen, am allerwenigsten sich selbst. Und zwar: Wenn Betty auf die Bühne sprang und dabei stolperte und lachte, etwas verlegen, indem sie kurz das Haar schüttelte und eine Strähne aus der Stirn strich, und dann, die Hände tief in den Hosentaschen, in der staubigen Scheinwerferflut allein und wie schüchtern stand und gegen das Licht blinzelte, und es schien, als sähe sie ihn an, allein ihn (obwohl er hätte wissen müssen, dass man, gegen das Licht blickend, nichts sieht). Oder wenn beim Frühstück diese senkrechte Aderauf ihrer Stirn erschien, weil sie lächelte, und die vier Wände eines holzgetäfelten Frühstücksraumes sich plötzlich in Helligkeit auflösten, oder wenn sie sich, nachmittags, nachdenklich an einer Stelle im Nacken berührte oder einen Zeitungsartikel las und das Haar hinters Ohr klemmte oder eine Melodielinie über a-Moll nach G-Dur sang und die Augen dabei schloss. Oder wenn
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