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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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sie rauchte. Oder einen Apfel aß. Oder eine Fliege verscheuchte. Dann musste er sich schnell abwenden, weil diese Bilder plötzlich zu groß, zu gewaltig waren für seine Augen und die rauchende, die Apfel essende, die Fliegen verscheuchende Betty jeden Quadratmillimeter seines Körpers ausfüllte und keinen Platz mehr zum Atmen ließ.
    Eines Nachts, in einer Pension in München, als er, nachdem er stundenlang in seinem Bett noch gelesen hatte, sein Zimmer verließ und in Richtung WC tappte, sah er am Ende des langen Flurs, wo ein Wandlicht hinter einem Schirm aufflammte, ihre Gestalt im Schlaf-T-Shirt, im Micky-Maus-Shirt, das weit war, an den Seiten etwas zipfelig, und ihr fast bis zu den Knien reichte. Sie schien zu erschrecken, hatte ihn nicht bemerkt offenbar. Sie blieb vor ihm stehen, er räusperte sich.
    »Kannst du auch nicht schlafen?«
    »Setzen wir uns noch kurz?« Sie deutete mit dem Kopf auf eine kleine Sofasitzgruppe am anderen Ende des Flurs.
    Also wurde gesessen. Ein rundes Tischchen, dunkelrosa mit Marmorimitat-Adern, zwischen ihnen. Darauf eine Plastiknelke. Sie saßen und schwiegen. Er hätte sich nicht hierhin setzen sollen.
    »Wann muss Marc nach Luzern?«, fragte er, um etwas zu sagen. Er wusste es genau, nächste Woche Freitag. Am Ende der Tour.
    »Nächste Woche Freitag«, sagte Betty.
    »Wir können ihn da absetzen«, sagte Tom. »Es ist toll für ihn.« (Ein Luzerner Kammerensemble würde eines seiner Streichquartette aufführen. Marc, weil ohnehin in der Gegend, wollte einer der Proben beiwohnen.)
    »Ja«, sagte Betty. »Es ist toll. Ich hab übrigens wirklich mit Diedrich geschlafen«, sagte sie. Verfolgte dabei mit den Augen die Marmoräderchen auf dem Tisch. Ihre Stimme klang, als hätte sie gesagt, ich habe übrigens einen Kuchen gebacken.
    Tom wollte einatmen, aber die Luft fehlte ihm. Das gesamte Tischensemble einschließlich Betty Morgenthal entfernte sich und schien, wie in einem Spiegel, klein und unwirklich von der Wand herunter. Tom blickte hinein und schwieg, was sollte er auch dazu sagen.
    »Ich wollte sehen, was passiert«, fuhr sie fort und saß nun wieder direkt vor ihm da, ihre Fingernägel betrachtend.
    »Und?«, machte Tom.
    »Nichts«, sagte Betty. »Ich hab noch nie jemanden betrogen, aber es passiert nichts.«
    »Und warum erzählst du mir die Scheiße?«
    Sie zuckte die Schultern. »Es hatte dich doch interessiert«, sagte sie.
    »Ich will davon nichts wissen«, sagte Tom.
    »Ach so.«
    »Das ist echt total daneben.« Tom schüttelte den Kopf. Aber statt in sein Zimmer zu gehen, blieb er sitzen. Auch sie blieb sitzen. Beide starrten in möglichst weit voneinander entfernte Ecken, bis endlich Betty Morgenthal aufstand, Tom änderte seine Blickrichtung um keinen Millimeter.
    »Es tut mit leid«, sagte sie.
    Tom schwieg.
    »Gute Nacht«, sagte sie.
    Er schwieg. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie den schmalen Flur entlanglief mit ihrem weichen, etwas gespenstischen Gang und im Zimmer verschwand.
    Am nächsten Morgen beim Frühstück war er bester Laune. Es war, als hätte sie in der Nacht einen Faden zwischen ihnen durchgeschnitten. Er war jetzt absolut für sich. Er nahm die Welt wahr, wie er sie seit Wochen nicht gesehen hatte: Keine blinden Winkel, die man aussparen musste, weil dort B. M. saß, keine Gesprächspausen, wie Abgründe, keine zufälligen Berührungen beim Ausladen, die auf der Haut brannten und um jeden Preis vermieden werden mussten. Stattdessen konnte man jetzt im Auto sitzen, wo man wollte, die Welt wahrnehmen, den Frühling, die Vogelwolken über ihrem Auto, grüne Wiesen rechts und links, die schräg ins Hügelland aufstiegen, und die am Horizont stehenden Alpen, bleiche Felsen in der Dämmerung, die urplötzlich, unvermittelt aus der Ebene aufragten. Heugeruch flog durch die Fenster herein, Kuhdung. In der Ferne war Italien.
    »Man müsste wandern gehen«, sagte Tom zu Marc.
    »Auf dem Rückweg können wir wandern.« Marcs Haare flatterten im Fahrtwind. Er trug eine Sonnenbrille, eine Zigarette hing ihm im Mundwinkel, und um die Lippen hatte er ein Lächeln, vor sich das Lenkrad, Italien, die Zukunft, und Tom ahnte nicht, dass er ihn so vor sich sehen würde, später, immer wieder, während er sich das Kreuzfahrtschiff wünschte und die Umkehrung der Zeit.
    Sie folgten dem Inn. Rosenheim, Kufstein, Innsbruck, woFoxli (nicht violet) ein Konzert in einem kleinen Club gab und danach Germknödel aß. Die Innsbrucker sprachen wie die Schweizer, mit

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