Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
Vom Netzwerk:
Unsichtbaren , wie er sie seit längerem nannte, Shortbread an. Tom aß. Breitenbach schälte einen Apfel. Er sagte: »Die mittelalterliche Todsünde der Verzweiflung. Sie ist zunächst nichts anderes als Flucht«, er reichte Marc einen Apfelschnitz, »ja, die Abscheu vor dem höchsten Gut, vor Gott.« Tom nickte. Breitenbach sagte: »Aber sie führt nicht ins Dunkel, diese existentielle Verzweiflung, sondern letztlich zur Befreiung von der Transzendenz, zum überhellen Licht der Erkenntnis. Nietzsches Diktum«, sagte er und gab Tom einen Apfelschnitz, »vom gestorbenen Gott ist Befreiung, aber gleichzeitig Aufschrei der Verzweiflung.« Tom aß. Breitenbach sagte: »In der sogenannten Wüstenerfahrung, da die im Zenit stehende Sonne das Nichts offenbar werden lässt, erkennt der Einsiedlermönch von Alexandria, dass er allein ist!« Tom dachte an das Kreuzfahrtschiff, wie es durch die Wüste von Alexandria fuhr. Er hörte: »Diese existentielle Mittagsstunde, die böse Stunde, wie wir sie auch nennen, da die sengende Sonne an ihrem höchsten Punkt stillzustehen scheint, stürzt den Mönch in den Zweifel und folglich in die Ver-Zweiflung, bis er sich durch sie letztlich von Gott befreit.« Der Professor schwieg. Tom dachte an das Kreuzfahrtschiff, durch die Wüste fahrend. Niemals gehst du auf ein Kreuzfahrtschiff, dachte er, hast du dir geschworen, niemals, aber du wirst auf dieses Kreuzfahrtschiff gehen oder als ein Einsiedlermönch in die Wüste von Alexandria. Breitenbach beugte sich vor: »Die Moderne«, sagte er, »sie beginnt im Mittelalter! Mit der Sünde der Verzweiflung!« Tom aß und aß. »Nicht Gottes Tod«, sprach Breitenbach, indem er sich wieder zurücklehnte, »bedingt die Verzweiflung, sondern umgekehrt: Die Verzweiflung tötet Gott!Die Moderne beginnt mit der Verzweiflung!« Tom aß und aß und trank einen Schluck Tee.
    Er sagte Marc nichts von seiner Verzweiflung und nichts von seinem Kreuzfahrtschiff, das Mary II hieß, und auch Betty sagte er nichts. Es war noch Zeit. Ende März wäre er mit seiner letzten Prüfung fertig, Mitte April würden sie in See stechen. Er würde sich verlieben, wahrsagte er sich, in die reiche, aber noch junge Witwe eines Industriellen, die allein reist und ein Faible für traurige und langweilige Musiker wie ihn hat. Sie wird wahrscheinlich ein Handtäschchen tragen in Mintgrün. Oder er verliebt sich in eine Stewardess, mit der man jede freie Minute hemmungslosen, schmutzigen Sex auf der Crewtoilette haben kann, und das ganze Berlin und Betty Morgenthal und alle Verzweiflung und alles wird vergessen sein, und er kehrt heim nach einem halben Jahr als ein anderer Mensch.
    Aber es kam ihm der Chef des ambitionierten Münchner Labels dazwischen. Er hatte eine Tour organisiert, vierzehn Tage Süddeutschland, Österreich und Schweiz, sogar Bergamo/Italien, Anfang Mai, Festivals, Konzerte, Clubauftritte, ob sie bis dahin mit ihren Prüfungen fertig seien, wollte er wissen, denn dann könne es losgehen, sie hätten sich Gedanken gemacht wegen des Bandnamens, auf »violet« (kleingeschrieben), nach einem ihrer Songs, sei man gekommen, in Englisch, denn das sei kosmopolitisch und knackig.
    Marc wollte nicht »violet« heißen, aber auf Tour wollte er andererseits doch gehen, eine organisierte, bezahlte Tour wäre, wie er zugeben musste, schon etwas. Nur um ein Auto müssten sie sich selbst kümmern, hatte der Münchner gesagt, und deshalb fielen Tom sein Vater und der Opel ein, der in der Garage vorsich hin gammelte. Andererseits wollte er nicht auf die Tour, dachte er, sondern auf sein Kreuzfahrtschiff, er wollte im Anzug jeden Abend denselben abgeschmackten Chääs spielen, in der Rimini- oder Mallorca-Bar, er wollte sich hinterher zusaufen und seine gesamte Gage verprassen, er wollte die mintfarbene Dame kennenlernen, sich verlieben, wenigstens jede freie Minute hemmungslosen Sex auf der Crewtoilette, er wollte vergessen, wollte weg, und auf dem Seeweg würde er auch keinen Opel-Kombi brauchen.
    Am Telefon:
    »Ja, Holler?« Ein langer Seufzer in Moll.
    »Hallo, Mama, hier ist der Thomas.« Bei der ersten Silbe seines Heimatsingsangs wurde seine Kehle eng.
    Pause. Dann: »Thomas!«
    »Du, ist der Papa da?«
    Klappern, schlurfende Schritte, in der Ferne ein verhalltes »Gerhard? Gerhard, der Thomas!«
    Thomas hörte dieses Haus, er hörte die Stille in diesem Haus, meinte, sogar den Geruch zu hören. Dann wieder schlurfende Schritte, der Vater, der näher kam, sich

Weitere Kostenlose Bücher