Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
aber sehr gut angezogene Mütter schoben ihre Kinderwagen dicht an ihm vorbei. Das flammende Rot der Kinderwagen. Zwei Hunde, die gleichzeitig an einen Baum pinkelten. Ein Kind, das mit Hilfe eines Stöckchens ein schmutziges Taschentuch wendete, zu weinen begann, als seine Mutter es weiterzog. Ein hinkender Mann redete mit sich selbst. Ein anderer redete wie mit sich selbst in die Freisprechanlage seines Handys. Zwei Frauen redeten miteinander. Sie sagten: »Präsentation. Kriegt keinen Urlaub. Am Sonntag bis um elf gearbeitet.« Jemand sagte: »3000 €.« Und alle befanden sich in einer großen Bewegung, die sie zu verbinden schien.
Weil er fror, stellt er seinen Kragen auf und begann, auf und ab zu gehen. Kurz überlegte er, jemandem zu folgen, um in einem dieser ihm ameisenhaft erscheinenden Wege ein Ziel zu finden, verwarf aber seinen Gedanken und blieb vor einem Schaufenster stehen. Seine Frühlingsahnung war verschwunden. Jetzt fühlte er sich kalt und fremd und verlassen, so als wäre er von einem Reisebus in einer fremden Stadt vergessen worden, aber es war kein angenehmes Gefühl mehr. Er sah in dasSchaufenster, aus dem ihm sein eigenes Gesicht entgegensah und – ebenso klar umrissen und deutlich – das von Betty Morgenthal. Auch Marcs Gesicht neben einem grasgrünen Wecker.
Darüber stand »Accessoires«.
Obwohl er sich nicht besonders für Accessoires interessierte, ging er, nachdem die innenstehende Verkäuferin auf ihn aufmerksam geworden war, hinein, strebte mit der größten Entschlossenheit auf die Ladentheke zu und deutete auf eine Uhr in der Form eines Eis, die allerdings, wie man ihm entgegen seiner Annahme erklärte, keine Eieruhr, sondern eine ganz normale Uhr, ein sogenanntes Wohnaccessoire, sei. »Egal«, sagte er. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal etwas gekauft hatte, schon gar nicht ein Wohnaccessoire. Er wusste auch nicht, ob das Wohnaccessoire ein sinnvoller Kauf war oder nicht, aber nachdem er gezahlt hatte und die immer lächelnde Verkäuferin mit schnellen Fingern die Wohnuhr in eine nach DDR aussehende geblümte Papiertüte gesteckt und über die Ladentheke zu ihm herübergereicht hatte, fühlte er sich für einen Augenblick fast glücklich, denn er hatte wieder eine Funktion in der Welt. Er war ein Kunde.
Die Tüte mit dem Wohnei baumelte tickend neben seinem Bein, als er in den Hinterhof zurücklief, wo die Arbeiter noch immer arbeiteten. Ein Vogel hämmerte sein metallisches Pfeifen, aber er konnte ihn nicht sehen, nur die schwarzen, reglosen Zweige des Baums vor der weißen Glätte des Himmels. Er rauchte, warf den Stummel auf die Erde. Mit der Spitze des Schuhs schabte er darauf herum, es gab ein sandiges Geräusch. Sofort zündete er sich wieder eine Zigarette an und wandte sich erneut an den Arbeiter mit der blauen Mütze. Ob er eine Zigarette wolle. Er arbeite, sagte der Arbeiter. Wie lange er denn nochmüsse. Bis es dunkel sei, man müsse fertig werden, sagte der Arbeiter unwillig.
Als Holler darüber nachzudenken begann, was im Einzelnen dunkel bedeutete, denn im Februar war es meistens irgendwie dunkel, nur nahm die Dichte des Dunkels gegen Abend hin zu, näherte sich das Klacken hochhackiger Schuhe. Er warf den Zigarettenstummel in eine Pfütze. Hedda bog in den Hof, und er hörte sie einen Augenblick, bevor er sie sah. Sie aber bemerkte ihn erst, als sie schon fast an ihm vorbei war. Ihr Entsetzen war physisch wahrnehmbar, ließ ihn kurz schwanken, aber vielleicht war es auch der Lufthauch, der entstand, als sie so dicht an ihm vorüberwehte und dann abrupt stehen blieb.
»Was machst du hier?«
Holler betrachtete das kleine Dreieck zwischen Heddas Schlüsselbeinknochen, das er gut kannte, das sich, wie er sehen konnte, beim Atmen auf und ab bewegte. Früher hatte er es oft geküsst. Langsam stieg er mit seinem Blick nach oben.
»Ich ziehe um, das wollte ich dir mitteilen«, sagte er schließlich, über seinen Einfall selbst erstaunt. »Du hast noch ein paar Sachen bei mir vergessen. Ich war in der Gegend, und ich dachte, ich schaue mal rein.«
Hedda schien verwundert, nickte aber kurz, indem sie das Kinn mit einer kleinen Bewegung in die Höhe warf. »Verstehe«, sagte sie, senkte dann den Kopf.
»Du«, sagte sie lang gedehnt, was kaum wie Sprache, eher wie ein Ausatmen klang, »hast schon eine neue Wohnung?«
»Ja, aber ich habe die Adresse vergessen«, sagte er.
Hedda unterdrückte ein Lächeln. »Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Du hast ja
Weitere Kostenlose Bücher