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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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vor, sagte sie und lachte. Und Lungenkrebs und Mundbodenkrebs auch, könne man sagen. Erst gestern habe man einen Patienten operiert, Nichtraucher übrigens, einen jungen Mann, neununddreißig Jahre alt, der an einer aggressiven Form von Lungenkrebs leide, Heilungschancen marginal in diesem Stadium, Theaterschauspieler übrigens, der ihr ein paar Tage vor der Operation erzählt habe, er sei zum ersten Mal glücklich gewesen, nämlich gerade vor einigen Wochen habe er sich explizit gedacht, zum allerersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich zu sein, das Leben zu meistern, da man ihm eine große, wahrscheinlich seinen Durchbruch bedeutende Rolle beim Film angeboten habe, und außerdem werde er, was er sich sehr gewünscht habe, bald Vater, aber als gönne Gott ihm dieses Glück nicht, habe er einige Tage nach dem positiven Schwangerschaftstest die Krebsdiagnose bekommen, sagte er, und so wie es aussehe, werde er nicht einmal mehr sein Kind kennenlernen, sagte sie, und in solchen Fällen wisse man oft nicht, was zu sagen sei. Oder jene Familie, die ihre Mutter durch einen komplett überflüssigen Autounfall zufällig verloren habe. Genauso zufällig wie das Leben sei eben auch der Tod, denke sie manchmal. Es sei seltsam, fuhr sie fort, aber gerade da, wo man so viel mit dem Tod zu tun habe, drehe es sich ja auch immer um sein Gegenteil, nämlich ums Leben. Sie blickte ins Licht eines Kronleuchters. Gerade hier, sagte sie, gerade in Neapel.
    Er hätte jetzt fragen sollen, warum, warum gerade in Neapel. Aber er konnte es nicht. Zwar hörte er, was sie erzählte, aber es war ihm unmöglich, es aufzunehmen, es zu fühlen, denner fühlte da hindurch etwas anderes, die Jahre zwischen ihnen, die sie mit dem vielen Reden überdeckte, die Einsamkeitsjahre, die Schlafjahre und die Jahre, dachte er, die unser Leben waren, unser eigentliches Leben, bevor wir eingeschlafen sind.
    »O Gott, Betty«, sagte er auf einmal. Er ergriff ihre Hand. Er wollte noch etwas anderes sagen, aber es waren zu viele Worte in ihm, und er konnte sich für keines entscheiden, also schwieg er. Er sah sie lange an, hielt ihre Augen lange mit seinem Blick fest, als gäbe es nichts als diese Augen, als balle sich die Welt in diesen Augen zusammen. Erst als sie ihre Hand unter der seinen hervorzog, bemerkte er, wie fest er auch sie gehalten hatte. Er ließ sie los.
    Wo sie eigentlich als Nächstes spielten, fragte sie und räusperte sich leise, vermied den Anblick seiner Augen, indem sie zu seinem rechten Wangenknochen sprach.
    Er wusste es nicht. Er hob die Schultern und dachte, dass er es nicht wusste. Die ganze Zeit über hatte er nur bis Neapel geplant. Neapel war seine Horizontlinie gewesen, und auf einmal musste er einsehen, dass es hinter der Horizontlinie weitergeht. Das Leben ist keine Scheibe. Das Leben ist eine Kugel.
    »Palermo«, sagte er leise. »Ich glaube, wir spielen in Palermo.«
    »Toll«, sagte sie. »Palermo ist toll.«
    »Ja«, sagte er.
    »Wann?«, sagte sie und begann, irgendetwas in ihrer Handtasche umzuräumen.
    »Was wann?«
    »Wann ihr in Palermo seid?«, sagte sie und räumte etwas Wichtiges in ihrer Handtasche um.
    »Ich glaube, übermorgen«, sagte er, aber es stimmte nicht, er glaubte es nicht.
    Sie legte ihren Geldbeutel auf den Tisch. Sie müsse jetzt gehen, sagte sie. Wenn er wolle, zeige sie ihm morgen die Stadt, sie habe frei.
    »Nein«, sagte er, »doch.«
    »Was jetzt?«, sagte sie und lächelte, und dieses Lächeln, fand er, war wie ein dünner Sonnenstrahl, der durch eine Wolke bricht.
    »Zeig mir die Stadt«, sagte er. »Zeig mir alles.«
    Eilig stand sie auf, und eilig sagte sie: »Um elf Uhr hier.« Sie drehte sich um, glitt davon auf dem wie eine Eisfläche schimmernden Marmorfußboden und bezahlte an der Bar, was er, der ebenfalls aufgesprungen war, geschehen ließ, weil er sich nicht mehr bewegen konnte. Weil sein Körper und auch seine Gedanken zu langsam waren und nicht begriffen, was hier geschah. Dass er sie wiedergetroffen hatte und jetzt einfach gehen ließ. Dass er sie in diesem Moment durch den Samtvorhang der Bar Gambrinus tauchen, die Tür öffnen und hinaus auf die Piazza treten, in die Dämmerung der Stadt und am Fenster vorbei laufen sah, an diesem Fensterplatz, auf dem sie in seiner Vorstellung immer noch bei ihm saß und an dem sie in einer ungeheuren Gleichzeitigkeit aller Dinge vorüberlief, indem sie noch einmal hereinblickte zu ihm, durch eine von Kerzenschein erleuchtete Glasscheibe von

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