Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Unterwasserstille der Intensivstation, in der alles, das Wechseln der Infusionen, Bedienen der Tastschalter an den Monitoren, das Umbetten der bewegungsunfähigen Patienten, das stumme oder flüsternde Verweilen der Angehörigen, sogar die eiligen Gänge, raschen Handgriffe bei Alarmsituationen, zeitlupenhaft und verknappt erschien, spärlich nur beleuchtet vom Tageslicht, das durch die grünen Lamellenvorhänge sickerte.
Betty durchschwebte die grünstichige Welt, verabschiedeteihre Kollegin in den hellen Tag und setzte sich an den Schreibtisch im Vorraum, um die Patientenakten zu studieren. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht, in diesem Gästezimmer, in dem sie sich nichts anderes wünschte, als nach Hause zu gehen, wo sie bereits war. Trotzdem fühlte sie sich keineswegs müde, sondern gespannt, aufgezogen, als ticke die Uhr in ihr schneller, um die endlose Länge der Nacht auszugleichen. Alfredo hatte ihr kein Frühstück gemacht an diesem Morgen, sondern nur einen Espresso getrunken, hatte die Zeitungen durchgeblättert, in äußerster Eile trotz der frühen Stunde, im Stehen, vielleicht weil sein Stuhl neuerdings besetzt war von einem unsichtbaren Mitbewohner, jenem anderen, der vor ihm da gewesen war und vor dem sie nicht sicher war, nicht einmal in Italien, wo die Höhe der Alpen und die vielen Jahre zwischen ihnen lagen, und an dessen Augen und Haar und Hände sie gedacht hatte in der schlaflosen Nacht auf der Gästecouch. Wie viele Erinnerungen, verblasste Bilder, verklungene Sätze hineinpassen in so eine schlaflose Gästecouchnacht, dachte sie. Ihre Augen brannten, sie blinzelte. Ein graues Computergesicht schaute sie an. Und ihr anderes Leben hinter den Bergen, hinter den vielen Jahren. Immer wieder Tom Holler vor der glänzenden Fläche eines Sees. Und Holler am Klavier, Zigarette im Mundwinkel, Augen halb geschlossen vor dem Zigarettenrauch. Der Blumenhügel eines frischen Grabes, von Bienen umsummt. Ein Holzkreuz. Sie hatte den Namen und die Daten gelesen, immer wieder, um sich zu vergewissern: Marc Baldur, geb. am 08. 03. 1969, gest. am 21. 05. 1997. Sie hatte sich gewundert über die Betriebsamkeit der Bienen, die keinen Unterschied machten zwischen Friedhofsblumen und Nichtfriedhofsblumen, über die Helligkeit der Sonne an diesem Tag, die ihr zeigte, dass die Welt sich weiterdrehte,sich aber keineswegs um die Menschen drehte, und diese kopernikanische Wende hatte sie hinausgeschleudert in einen entlegenen Platz des Universums, Lichtjahre entfernt von Holler, der neben ihr am Grab ihres Freundes stand. Sie las die Daten auf dem Holzkreuz. Sie las die Patientenakten. Ein Neuzugang in der Nacht, marginale Überlebenschancen, Verkehrsunfall mit Vespa und LKW, epidurale Blutung, nach Notoperation Rezidivblutung. Die Angehörigen hatte man telefonisch vorbereitet, ein ausführliches Gespräch für den Vormittag anberaumt. Zwei weitere präfinal, sonst die übliche OP-Nachsorge. Betty stand auf, tauchte wieder in die grünstichige Stille des Patientenzimmers. »Er wird es nie erfahren«, hatte Tom gesagt. Über ihnen die Leere des Himmels, der alles gesehen hatte mit seinem großen blauen Auge. Der Himmel aber hatte geschwiegen, dachte sie.
Sie überblickte die Reihe der Betten zwischen den Raumteilern. Die Körper unter den Decken waren kaum zu unterscheiden am Relief der Füße, der Knie, der Schenkel, weil sie angesichts des allgemeinen, des für alle gleichen, des keinen Unterschied machenden Todes das Individuelle bereits verloren zu haben schienen. Stets näherte man sich ihnen vom Fußende her, die Perspektive gedehnt, die flache Wölbung des Körpers, die blassen Hände, die immer auf der Bettdecke lagen, zur Berührung bereit, und ganz hinten, unter Beatmungsmasken und Schläuchen verborgen und kaum zu erkennen, das Gesicht. Betty Morgenthal näherte sich den Betten, sank bis an den Grund.
Das Gesicht des Neuzugangs, Federica Bonardi, wohnhaft in Pozzuoli, fünfzigjährig, die laut Polizeibericht am Vortag, wie jeden Sonntagvormittag, in der Konditorei Sfogliatelle hatte einkaufen wollen und, wohl wegen des starken Regens, beim Abbiegenvom Fahrer eines Lieferwagens übersehen worden war, schien unversehrt und erstaunlich jung. Betty spritzte ein blutdrucksenkendes Mittel, obgleich es hier weniger um Heilung als um die Aufrechterhaltung der vegetativen Funktionen ging und ein schneller unspektakulärer Tod für alle Beteiligten die beste Lösung wäre, ein leises, kaum wahrnehmbares
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