Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Hinübergleiten in die Dunkelheit, ähnlich dem wortlosen Schließen eines Vorhangs.
Signor Bonardi trug, als er kam, ein hellblaues Köfferchen in der Hand. Er stellte es im Vorzimmer neben sich ab, darin seien Kleider zum Wechseln für seine Frau, Unterwäsche, Pantoffeln, ein Schlafanzug, soweit er alles gefunden habe. In einer Plastiktüte hielt er ihre Medikamente, man habe am Vortag darum gebeten. Bonardis breite Schultern fielen in Richtung Fußboden, als er im unerbittlichen Neonlicht des Ärztezimmers stand. Alles an diesem großen schweren Mann schien hinabstürzen zu wollen, und es war nicht ersichtlich, wodurch er sich aufrecht hielt. Weil alles zugleich stürzt vielleicht, dachte Betty, verbot es sich aber. Rechts neben ihm die Tochter, etwa zwanzigjährig, links der Sohn, unwesentlich jünger. Sie rahmten den Vater, als ob sie ihn stützen wollten, aber der Abstand zwischen ihren Körpern war ein wenig zu groß, zu vereinzelt standen sie in der Neonhelle des Zimmers.
Betty Morgenthal nahm die Medikamententüte entgegen, die niemand mehr brauchen würde, und bat die Familie, sich zu setzen. Sie würde gern, sagte sie, mit ihnen sprechen, bevor sie zu der Kranken hineingingen. Sie wartete, bis die Angehörigen sich auf den Angehörigensesseln niedergelassen hatten, gepolsterte, bequeme Sessel waren es, in denen man einsank. Angehörige , dachte sie, indem sie sich kaum merklich mit ihrem Drehstuhlhin und her bewegte, was für ein seltsamer Ausdruck im Deutschen, den sie in Gedanken auch noch nach Jahren benutzte, weil es für ihn im Italienischen keine Entsprechung gab, der ausschließlich für negative, ja beinahe stets den Tod betreffende Gelegenheiten, wie schwere Krankheiten, Unfälle etc., benutzt zu werden schien, niemals für erfreuliche. Einem Menschen angehörig schien man erst dann zu sein, wenn man diesen verlor.
Betty räusperte sich und setzte ein bekümmertes, aber nicht zu bekümmertes Gesicht auf.
Was sie denn bereits wüssten, fragte sie, weil man so anfing, indem man die Angehörigen einbezog. Die Angehörigen sahen stumm geradeaus auf einen Punkt oberhalb ihrer Nase. Betty räusperte sich, blickte in die Augen und tief in die Leben dieser drei Menschen für einen Moment. Sie senkte den Blick in die Patientenakte, räusperte sich, betrachtete die halbmondförmigen Abdrücke ihrer Daumennägel in der Kunststoffmappe. Sie hätten ja am Morgen bereits einen Anruf von der Klinik erhalten, fuhr sie fort, indem sie aufmunternd nickte. »Ja«, sagte die Tochter endlich, sie wüssten, dass ihre Mutter in der vergangenen Nacht eine neue Blutung bekommen habe und dass man nicht noch einmal operieren könne. Das Sprechen schien ihr große Mühe zu bereiten, denn ihr Mund vibrierte, und kaum wollten sich die Lippen zur Tätigkeit des Sprechens zusammenfinden. »Aber wir wissen nicht, was das heißt«, fügte sie hinzu, und die letzten Worte kippten nach hinten in ihren Hals zurück, in einem hell-blechernen Ton, den man kaum noch verstand und nur schwer von einem leisen Schrei unterscheiden konnte. Ein nicht nach außen zielendes, sondern ein umgekehrtes, in den eigenen Körper gerichtetes Schreien. Betty konnte ihr eigenes Blinzeln hören.
Es tue ihr leid, dass sie ihnen nichts Günstigeres berichten könne, sagte sie, was eine bewährte und oft gebrauchte Redewendung war. Wie sie schon wüssten, sei es nach der Notoperation zu einer weiteren Blutung gekommen, was sehr ungünstig sei. Sie sprach langsam, wie zu Schwerhörigen. Obwohl man durch die Schädelöffnung eine Druckentlastung bewirkt habe, sei die linke Gehirnhälfte durch die erneute Blutung deutlich angeschwollen. Aufgrund des künstlichen Komas könne man nicht feststellen, welche vegetativen Funktionen noch vom Organismus selbst übernommen würden, Atmung beispielsweise. Man werde die Patientin im Laufe der nächsten Tage von der Maschine nehmen, um das zu überprüfen. Alles in allem seien die Chancen, fuhr sie fort, nicht günstig bei einer solchen Schwellung des Gehirns, aber natürlich könne man nie wissen.
»Wie lange wird es dauern?« Kaum zu hören war die Frage des nun schief aus seiner Sitzgelegenheit ragenden Vaters.
Die Ärztin könne leider auch hier keine genaue Prognose geben. Es könnten einige Tage sein, aber auch eine Woche. Pause. Erneutes Blinzeln. Die Augen der Angehörigen waren Abgründe, in die man sich unter keinen Umständen hineinziehen lassen durfte, weil dies unprofessionell war und niemandem
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