Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Wagen herum, zog ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ihren alten Urlaubsrucksack, an dem die schmutzigen Turnschuhe zu beiden Seiten baumelten. Dann schloss sie die Beifahrertür und sah durch das Fenster noch einmal hinein, auf Toms Gesicht, auf seinen dunklen großen Blick, der schon Kilometer und Jahre entfernt war und doch mitten in ihrem Kopf. Sie drehte sich um und lief davon.
Ein Hüsteln. Bonardi stand groß und schief im Ärztezimmer. Betty sprang auf, bat, Platz zu nehmen. Das Gesicht der Tochter war aufgeweicht, Feuchtigkeit glänzte auf der großporigen geröteten Haut, schien sie von innen zu durchdringen und aufzulösen. Toms Gesicht verschwand hinter diesem Gesicht. Betty nickte dem Sohn zu, der an ihr vorbeilief, er müsse hinaus, sagte er, ohne jemanden anzusehen. Vater und Tochter sanken in die Angehörigensessel. Betty blinzelte. Sie hatte sich dieses Blinzeln angewöhnt, es schien ihr angemessen, um Mitgefühl auszudrücken, aber noch war sie sich dessen bewusst. Kein Automatismus bis jetzt.
Ob sie denn Fragen hätten im Moment, sagte sie leise und kam sich eigentlich sehr sympathisch vor.
»Sie sagen, sie hat keine Schmerzen.« Bonardis Stimme klang wie ein Befehl.
Betty nickte mehrmals. Sie spüre nichts. Sie könnten in dieser Hinsicht ganz beruhigt sein.
»Spürt sie dann auch nicht, wenn wir bei ihr sind? Merkt sie, dass wir da sind? Kann sie uns hören?« Bonardi richtete sich auf, stützte sich mit den Händen auf der Lehne ab, als wollte er jeden Moment auf sie losspringen.
Betty zögerte, wiewohl sie die Antwort kannte, oft erprobt hatte. »Das wissen wir nicht so genau.« Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen merke sie nichts in diesem Zustand, sagte sie, aber wenn die Angehörigen das Gefühl hätten, mit der Patientin sprechen zu wollen, dann sollten sie das ruhig tun, man könne nie wissen.
Aber dann sei es theoretisch auch möglich, dass sie Schmerzen habe, sagte er. Betty blickte in das aufgeweichte Gesicht der Tochter, hinter dem ihre Erinnerung verschwunden war.
»Oder? Wenn man nicht weiß, ob sie uns hören kann, dann kann sie auch Schmerzen haben, oder nicht?« Bonardis Kopf zitterte, schien von seinem Hals herunterfallen zu wollen.
»Nein«, sagte sie. »Nein.« Das Gehirn sei nicht schmerzempfindlich, es gebe dort keine Nerven. Abgesehen vom Koma würde die Patientin also allein deshalb keine Schmerzen spüren, keine Sorge, sprach sie langsam zu den Angehörigen, die sie in wenigen Minuten entlassen würde in den Tag, wo die liebe Sonne schien, als sei kein Unglück die Nacht geschehen. Wie Silvaplana an jenem Morgen, dachte sie. Betty sah in die Angehörigengesichter, hin und her, fragte, ob sie weitere Fragen hätten, blinzelte und beobachtete, wie Tom wieder hinter dem Tochtergesicht heraufstieg. Sie blinzelte und blätterte flink im Fotoalbum ihres Gedächtnisses. Ihre Fahrt zu dritt vom Comer See in den Winter von Silvaplana hinauf, ihre Fahrt, wieder zu zweit, wenige Tage später zum Krankenhaus nach Samedan, daswie frisch geputzt in der Morgensonne lag. Der Schnee war in wenigen Stunden weggetaut, als sei kein Unglück die Nacht, als sei alles ein Traum gewesen. Das pendelnde Vanilleduftbäumchen im Auto, die feuchtglänzenden bunten Garagentore von Samedan. Das Röhren des alten Autos, gleich neben den Sternbildern, gleich neben Marcs Körper im Keller des städtischen Klinikums, gleich neben Toms Augen, dem Zigarettengeschmack seiner Küsse, dachte sie und wunderte sich über den Gerechtigkeitssinn ihres Gedächtnisses, das alle Bilder in gleicher Wichtigkeit, gleicher Größe nebeneinander hinstellte. Sie blinzelte, blinzelte die Bilder weg. Das Religionsthema war anzusprechen in diesen Fällen. Sie schlug das Fotoalbum zu, ihr Bein über und beugte sich auf dem Drehstuhl nach vorn.
Da die Prognosen nicht günstig seien, sagte sie, müsse sie fragen, ob die Patientin religiös sei und ob sie die Krankenweihe empfangen wolle. Betty stellte ihr übergeschlagenes Bein wieder auf die Erde zurück, beugte sich aber weiterhin nach vorn, und holte aus. Heutzutage werde diese Sache anders gehandhabt, es sei nicht notwendigerweise, nun ja, als Letzte Ölung zu bezeichnen, es sei eher eine Begleitung der Kranken sowie der Angehörigen, sofern sie dies wünschten, sie mache lediglich ein Angebot, selbstverständlich nicht zwingend usw.
Bonardi sank etwas ein in seinem Stuhl, die Schultern kippten nach vorn. Aber er ließ sie nicht aus den Augen. Erst einige Sekunden
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