Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
später sank auch sein Blick. »So einen Gott brauchen wir nicht.« Die Worte waren nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen.
Betty räusperte sich, sagte, sie verstehe das vollkommen, das Krankenhaus mache lediglich ein Angebot, und riet aber den Angehörigen, zu überlegen, was im Sinne der Patientin sei. BettyMorgenthal, Promotion-Veranstaltungen für die katholische Kirche.
»Sie möchte das«, flüsterte die Tochter. »Ich meine, sie hätte das gewollt.« Aus ihren Augen kippten Tränen. Ihre Mutter sei jeden Sonntag zur Kirche gegangen. Auch gestern sei sie in der Kirche gewesen. Der Unfall habe sich auf dem Rückweg ereignet, nachdem sie bei der Bäckerei vorbeigefahren sei, um Sfogliatelle zu kaufen, sagte sie und stockte, um Anlauf zu nehmen vor dem nächsten Satz, ihr ganzer Körper nahm Anlauf. »Und am Abend haben wir dann die Sfogliatelle gegessen. Wir mussten ja was essen, und sie waren noch in ihrer Tasche. Sie waren nicht einmal zerdrückt.« Ein Schluchzen stürzte aus ihrem Mund, das an glucksendes Gelächter erinnerte. »Bitte lassen Sie ihn kommen«, sagte sie, und dann schwieg sie, als werde sie nun für immer schweigen.
Noch kurze Zeit saß man betroffen im Stuhlkreis. Jeder der Stühle trieb in eine andere Richtung langsam unaufhaltsam davon. Das Schweigen war tief.
Endlich erhob sich die Ärztin mit einem Räuspern und Scharren der Füße, um die Angehörigen dezent darauf hinzuweisen, dass sie noch anderes zu tun habe, weil auch an anderen Ecken und Enden des Poliklinikums gestorben wurde, weil Krankheit und Tod hier nichts Ungewöhnliches waren, weil sie hier hineingehörten wie das Mobiliar und außer den Angehörigen niemanden erstaunten. Fragen, jederzeit, wiederholte die sympathische Ärztin mit einem warmen Händedruck, auch telefonisch, auch nachts, rund um die Uhr. Der Koffer, bitte den Koffer nicht vergessen, fügte sie noch hinzu, denn der Koffer werde hier nicht gebraucht. Der Vater drehte sich in der Tür um, bückte sich hinab, und dieses hellblaue Gepäckstück inseiner Hand, winzig gegen den großen Körper, schien ihm zu schwer zu sein. Die Anstrengung, es zu tragen, zerbrach sein Gesicht.
BELEUCHTUNGSPROBE
Tom Holler ahnte seit langem, dass es auf die richtige Beleuchtung ankommt im Leben. Die Dinge ändern sich mit der aktuellen Lichtstimmung: Eine Reihenhaussiedlung im Berliner Norden, Häuserkartons in tannenbestandenen Gartenvierecken, die, eingeschlossen in schmutziggraue Luft, als materialisierte Depression daherkommt, erweckt bei Sonnenschein immerhin den Eindruck einer gewissen Ländlichkeit. Das Wasser eines neben der Vorortsiedlung gelegenen Sees hat die verschiedensten Farbmixturen zwischen schlammbraun und leuchtend türkis anzubieten, je nachdem, ob zufällig ein Licht durch die Oberfläche bricht oder nicht, und selbst der blaue Himmel über See und Vorortsiedlung – ein Physiker hatte es Tom bei irgendeiner Gelegenheit erklärt – ist in Wahrheit ein Nichts, durchsichtig, eine mehr oder weniger ansprechende flüchtige Illusion, die ausschließlich auf den Lichteinfall, den Licht zu fall, zurückzuführen ist.
Genauso die Seele. Sie ist die Vorortsiedlung, dachte Tom, das farblose Wasser des Sees, der durchsichtige Himmel, und irgendetwas übernimmt die Funktion des Sonnenlichts: ein Lächeln aus bestimmten Frauenaugen, eine Tonfolge, ein Anruf, Hormone, die wiederum diese oder jene physiologische Schaltkonstellation im Gehirn erzeugen, willkürlich Weichen verstellen, wodurch Stimmungen allenfalls relativ, schwankend, um nicht zu sagen trügerisch sind, eine Einbildung.
Tom saß am Fazioli-Flügel des »Teatro della Corte« in Genua herum, klimperte »As Time Goes By«, um sich die Zeit zu vertreiben, und wunderte sich, dass er so gut gelaunt war. Seine Seele war, wenn nicht blau leuchtend, so immerhin von einem diffusen Seitenlicht angestrahlt, das durchaus genügte, um am Leben zu bleiben.
Er spielte absichtlich »As Time Goes By«, während die Techniker an den Scheinwerfereinstellungen schraubten, ein Stück, das ihm früher etwas bedeutet hatte, obwohl es ein durchschnittlicher Jazzstandard war. So ein Lied hatte ihm einst die Welt ersetzen können. Und später hatte sich die Musik als Netz aus Tönen über den Abgrund gespannt, eine Hängebrücke, auf der man über das Nichts spazieren konnte, bis dieses Netz sich irgendwann abgenutzt hatte, dünner geworden und schließlich gerissen war, so dass er seitdem daran herumflickte und sein Komponieren
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