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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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der Leitung, man musste es sich nur abfüllen), und so waren sie am frühen Nachmittag nicht im Wedding, sondern an der Ostsee bei Ahlbeck, wohin sie vom S-Bahnhof Bernau aus in seinem grünen, nach Hund stinkenden Jägerauto ein freundlicher Jäger mitgenommen hatte, der ihnen während der Fahrt die Arbeitslosenproblematik, die seiner Meinung nach übrigens mit der Ausländerproblematik zusammenhänge, die wiederum die größte Herausforderung des wiedervereinigten Deutschlands sei, in aller Ausführlichkeit erläuterte. Er habe aber nichts gegen Ausländer. Prinzipiell eigentlich nicht, sagte er. Er fuhr auf eine Treibjagd. Nichts für ungut. Und sie bedankten sich und waren zufällig am Meer. Tom wäre bei dieser Gelegenheit zufällig fast ertrunken. Er ließ es sich aber nicht anmerken.
    Er dachte in Genua: Immer ist alles anders gekommen mit Marc. Jeder Tag eine unvorhergesehene Wendung. Ein Knick um neunzig Grad hinter dem Horizont. Man will in den Wedding und kommt ans Meer. Man will Klavierschüler und kriegt eine Geliebte. Man will, dass alles so bleibt, und alles ändert sich.
    Er erinnerte sich: Er war sich, als er an jenem frühen Septembermorgen in der warmen Flughafenhalle stand und wartete, nicht sicher gewesen, ob er der Einzige sei, der Marc abholen wollte, denn abgesehen von einigen wenigen biographischen Eckdaten hatte er damals nicht viel über Marc gewusst. Ihre Briefe waren ein Spiel gewesen, Teilchen eines Puzzles, die, zusammengefügt,ein seltsames Bild ihrer bisherigen Bekanntschaft ergaben. Tom wusste mehr über die Klavierschüler, Kalifornien und diverse amerikanische Mädchen als über Marc. Über eine Bagelverkäuferin jüdischer Abstammung namens Victoria beispielsweise, deren Großvater 1937 emigriert war und in Berkeley den ersten Hundefrisiersalon eröffnet hatte, wusste er, dass sie Hölderlin liebte und noch mit Mitte zwanzig eine Zahnspange trug. Er wusste, dass in Marcs quadratischem Studentenzimmer über dem kleinen grünen Waschbecken statt eines Spiegels eine riesige USA-Landkarte hing, weswegen man beim Rasieren das Gefühl hatte, Amerika zu mähen. Tom wusste über eine gewisse Jackie, dass diese sich hatte »die Nase machen lassen«, wie sie zu sagen pflegte, und wusste, dass eine puppenknopfäugige Hunde-Ausführerin namens Lindy mit acht Hunden auf einmal konnte, wobei sich der Kreis zu Victorias jüdischem Großvater schloss, aber im Grunde wusste er wenig über Marc. Es war anzunehmen, dass er außer Tom noch andere Bekannte in Berlin hatte, vielleicht sogar eine Freundin oder Exfreundin, die aufgrund seiner langen Abwesenheit irgendeine verlorene Zuneigung wiederentdeckt zu haben glaubte oder aus alter Gewohnheit auf ihn wartete.
    Marc war als Letzter durch die Glastür gekommen. Er schien es nicht besonders eilig zu haben mit seiner Rückkehr. Ohne sich in der Menge der Wartenden umzusehen, ging er mit langen, aber gemächlichen Schritten auf den Ausgang zu. Seine Haut war gebräunt, die Haare fielen hell nahezu bis auf die Schultern hinab, die Augen schmal, um das Sonnenlicht zurückzuhalten, aber die Brauen schwebten wie Möwenflügel über seinem Gesicht, und der Blick strebte geradeaus über die Menge hinweg. Er rechnete mit niemandem offensichtlich oder gabsich den Anschein, es nicht zu tun, oder hatte sich vorgenommen, niemanden zu erwarten, um nicht enttäuscht zu werden. Erst kurz vor der Drehtür entdeckte er Tom.
    »Da bist du ja«, sagte er und lächelte. »Ich dachte schon, du kommst nicht.«
    Sie warteten auf den Flughafenbus. Die Sonne stand gläsern im Himmel, streute zerbrechliche Wärme.
    »Lass uns noch nicht nach Hause«, sagte Marc plötzlich, fast flehend. »Lass uns noch ein bisschen rumfahren. Bitte. Hast du Zeit?«
    Da Zeit in jenen Tagen in unbegrenzten Mengen aus der Wasserleitung des Lebens kam, langten sie gegen Mittag am Meer an. Und das Meer lag wie das Meer persönlich herum. Bis zum Horizont. Salzgeruch wehte ihnen entgegen, als sie auf der hohen Uferböschung standen und gegen das Licht blickten, das in einem weißen Dreieck auf der Meeresfläche ausgebreitet war. Sie rannten los, ließen Marcs Gepäck (einen alten Rucksack und einen kleinen dunkelroten Plastikkoffer, das war alles nach einem halben Jahr Kalifornien) in den Sand fallen und liefen übers weiche, hellgrüne, vom Wind gebeugte Dünengras zum Ufer. Am Wasser blieben sie keuchend stehen, krempelten die Hosenbeine auf und wateten hinein. Die Kälte versetzte ihnen

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