Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
der Frau aus Fleisch und Blut, sogar ausdrücklich vorgezogen wird. Denken Sie nur: Der Liebende trägt in seinem Herzen das Bild der Geliebten, er nährt es Tag für Tag, er betet es an, er schmückt es in seiner Imagination aus, bis es vollkommen wird, gottähnlich, gleichzeitig verzehrt er sich vor Sehnsucht nach ihm, weil er es besitzt und doch nicht besitzen kann , er verzehrt sich nach einem einzigen Blick, er schläft nicht, er isst nicht, alles, was er tun kann, ist, an sie zu denken , seine Gedanken sind rotierende Spiralen, die ihn immer tiefer in sein eigenes Inneres hinein- und hinabziehen, ihn ins eigene Selbst, in den Tiefengrund des Ichs hinabreißen, und dann, eines Tages«, Breitenbach änderte die Tonlage ins Sanftere, klimperte mit seinen Fingern in der Luft, steckte sie dann wieder in den Hosenbund, »wir sehen vor uns den Hof Kaiser Friedrichs II.von Sizilien, es ist ein Sonntag nach dem Kirchgang, hohe, von Sonnenschein durchflutete Frühlingsluft, ein Falke zieht seine einsamen Kreise, eine Kapelle von Spielleuten singt ein Lied, an diesem Morgen nun, nach wochenlangem Warten, begegnet er ihr. Es ist die Frau aus Fleisch und Blut, das Modell seines phantasmas , wenn Sie so wollen. Sie spaziert an ihm vorüber, hautnah, er kann den Lufthauch spüren, den ihr Kleid im Vorüberwehen produziert, Brokat und Samt, es wogt schwer durch die milde Luft, ihr Kopf ist anmutig geneigt, ein Blick von ihr, ein Augenaufschlag, wäre die Erfüllung. Und er? Was macht er?« Breitenbach spreizte die Ellbogenflügel und schien abheben zu wollen. Die Hörer saßen nach vorn gelehnt, hingen mit ihren Blicken an ihm, damit er es nicht tun konnte.
» Nichts «, rief Breitenbach. »Er macht nichts! Er schlägt die Augen nieder. Er sieht sie nicht an. Er geht an ihr vorüber, ohne ihren Blick zu erwidern. Und warum?«
»Um sein inneres Bild nicht zu zerstören«, sagte Tom.
»Sie sagen es«, sagte Breitenbach.
»Der Idiot«, sagte Marc.
»Nein!«, Breitenbach schüttelte den Kopf, »es ist dies die Geburtsstunde der Phantasie, es ist dies die Vorwegnahme des Subjekts, es ist dies die Befreiung des Denkens, im 13. Jahrhundert, denken Sie nur, im sogenannten tiefsten Mittelalter!«
Die Hörer nahmen beide ein Gebäckstück und zerkauten es andächtig. Vor dem Fenster begann kalt und fahl die Nacht. Im Haus gegenüber wurde ein Licht ausgelöscht, woraufhin ein anderes im Nebenzimmer aufzuckte, bläuliches Flackern, schnell geschnittene Fernsehlichtschnipsel, die die Dunkelheit zerstückelten. Plötzlich erhob der Professor die Stimme: »Ich zitiere«, sagte er. » Euer Bild malt ich in mein Herz, Schöne! Und jedeStunde und immerzu betrachte ich es. / Doch wenn ich an Euch vorübergehe, dann sehe ich nicht auf, um Euern Blick zu erwidern «, zitierte er und dirigierte sich selbst mit Hilfe der Ellbogen. »Oder denken Sie nur an Jaufré Rudel und die provenzalische Amor de Lonh«, fuhr er fort, in einem nebensächlichen Ton, so als sei dies ein alter Hut. »Der Knabe liebt ja seine Herzogin von Tripolis ein ganzes Leben lang«, sagte er, mit hängenden Flügeln der Ellbogen, »ohne sie nur ein einziges Mal selbst gesehen zu haben, allein aufgrund von Augenzeugenberichten und kraft seiner Vorstellungskraft liebt er sie aus der Ferne, nicht wahr, bis er sich schließlich auf die gefährliche Reise zu ihr begibt, verwundet wird und in ihren Armen augenblicklich« – er spannte die Flügel – » verstirbt .« Er sagte dies zur Keksschachtel. Dann erhob er sich, zerriss das Spinnennetz und ging hinaus. Als er wiederkam, hielt er ein rotes Küchenmesser in der weißen Hand, in der anderen einen grünen Apfel. Er setzte sich hin und vierteilte den Apfel, entfernte von den Stücken sorgfältig das Kerngehäuse und auch die Schale.
»Nehmen Sie«, sagte er. »Ein paar Vitamine!« Die grünen Schalen strich er mit der Handkante vom Tisch in die andere Hand, dann legte er sie wieder hin. Tom und Marc beobachteten, wie die Innenseiten der Schalen sich braun verfärbten.
»Der Liebende«, sagte der Professor und schaute ebenfalls auf die Schalen, »sieht also, ohne zu sehen. Er sieht nach innen. Er bespiegelt sich selbst, Selbstreflexion nennen wir das«, sagte er und griff plötzlich in die Schalen und knetete sie und warf sie auf den Tisch. Anschließend rieb er sich die Finger am Geschirrtuch trocken, das, wie auch ihm jetzt auffiel, stank. Er drückte seine Nase hinein und roch laut daran. Tom schielte zu Marc hinüber,
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