Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
nicht.
Die beiden Zettel aber, ohne die, wie er später oft, bevorzugt an betonblockförmigen Sonntagnachmittagen, denken sollte, sein Leben und dasjenige einiger anderer Personen erheblich anders verlaufen wäre, lagen vorerst in seiner Nachttischschublade und wurden manchmal von ihm angesehen. Er nahm sie behutsam heraus, zuerst den einen, dann den anderen, betrachtetesie, fuhr mit dem Finger die Linien der blauen Schrift nach, die feinen Vertiefungen, die die Kugelschreibermine auf dem Papier hinterlassen hatte, und manchmal näherte er sich ihnen mit der Nase, weil er meinte, den Duft eines gewissen Parfums zu erahnen, der allerdings mit der Zeit verblasste.
Natürlich lud er Anne Hermanns zum Konzert ein. Sie aber seufzte, indem sie ihre Brust weit aufblies, ging zur Anrichte hinüber und nahm ein großformatiges, ledergebundenes Notizbuch, in welchem sie eine Zeitlang mit sorgenvoller Miene hin und her blätterte, schüttelte dann den Kopf, seufzte erneut, und sagte: »Ich fürchte, das wird schwierig werden. Das ist ein Freitag, wie ich sehe, da kommen Geschäftsfreunde meines Mannes nach Berlin.« Sie schlug das Buch zu, legte es auf die Anrichte zurück, indem sie einen Moment innehielt, den Kopf senkte, als müsse sie nachdenken oder einen Flecken auf dem Holz begutachten, bevor sie ihn mit einem besonders wirksamen Reinigungsmittel entfernen würde. Dann drehte sie sich um, lächelte und sagte: »Aber ich würde sehr gerne kommen, Thomas, ich will sehen, ob ich da was schieben kann!«
Eingeladen wurde auch Winfried Breitenbach, der im Sommersemester über die Geschichte der Liebe, Teil 2, referierte, indem er seinen Studenten vorführte, wie aus der Innerlichkeit melancholischer Liebe die Mystik wurde. Wie das Ziel dieser Liebe die Liebe selbst war, indem sie wie ein Kreis oder Bumerang immer wieder zu sich selbst zurückkehrte, egal, was ihr in die Quere kam, Gott oder ein Mensch, sagte er. Die Liebe sei absolute Einkehr ins eigene Innere, aber auch Aufbruch zum anderen, Ekstasis, ein Über-Sich-Hinaus des Denkens, behauptete Breitenbach. Er wollte unter allen Umständen beim Konzert erscheinen.
DAS KONZERT
Erst als Tom am Abend der Aufführung, Kaffee trinkend und rauchend, in der Künstlergarderobe des Konzerthauses am Gendarmenmarkt saß, wo die hohen Spiegel unerbittlich sein Bild auf ihn zurückwarfen, wurde ihm bewusst, dass der große Tag gekommen war, denn man muss nur lang genug warten, dachte er, dann kommen alle Tage, was ihn erstaunte, die großen wie die kleinen, auch wenn man es gar nicht für möglich gehalten hat. Manche brauchen kürzer, andere länger, dachte er, aber sie kommen doch stets an bei dir, der du in der Garderobe sitzest und wartest und dich wunderst, dass es jetzt soweit ist. Die Zeit geht, und der Tag kommt.
Seine Finger waren kalt, fühlten kaum das Papier der Zigarette. Wie sollen sie gleich die Tasten fühlen?, fragte er sich. Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, rieb die Handflächen aneinander. In der Spiegelscheibe links neben ihm saß, ebenfalls rauchend, der Schlagzeuger Ulrich, der entgegen seiner Gewohnheit einmal pünktlich da gewesen war, weil das Konzerthaus, so hatte es Marc eindringlich zu ihm mehrfach gesagt, kein Jazzclub sei, und wenn beim Konzerthaus acht Uhr im Programmheft stehe, dann gehe es auch um acht los.
Noch war es aber nicht acht, sondern halb acht, wie Tom durch einen Blick auf die große runde Uhr feststellte, deren langer Zeiger von Minute zu Minute sprang und die Zwischenzeiten einfach ausließ. In den Spiegeln sah er, wie das novus ensemble (kleingeschrieben) hinter ihm durch die Garderobe wogte, mit den Geigen, Oboen und Klarinetten ein Geflecht sirrender, schwirrender Töne erzeugte. Tom nahm einen tiefen Zug, seine Finger zitterten, das Papier der Zigarette klebte an seinen Lippen.
»Scheiße«, sagte er zu Ulli. Der aber rauchte und schwieg und blickte lächelnd wie ein buddhistischer Mönch ins Nichts.
Klein und entfernt und von hinten sah er auch Marc in der Spiegelscheibe. An der gegenüberliegenden Garderobenseite, die einem anderen Raum jenseits einer fernen durchsichtigen Wand anzugehören schien, saß er und hielt seiner ersten Geigerin und Liebhaberin die Hand und sprach auf sie ein, bevor er ihre Wange küsste, dann aufstand, indem er sich das Haar aus der Stirn nach hinten wischte und mit gerundeten Lippen lautlos pfeifend herüberkam.
»Na?« Und ob alles klar sei, fragte er und legte seine Hände auf Toms
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