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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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Schall, denn der Komponist will sie auf den Moment ihres Entstehens, auf den Anschlag festgenagelt wissen, und so sind die Töne nichts als Materie. Holz, Blech, Stahl.
    Auch Ulrichs Schlagwerksound, so will es Marc, soll an die Materie erinnern, die ihn erzeugt, weshalb der Trommler seine Klangutensilien im ersten Satz mit Tüchern bedeckt hat. Die Streicher drücken ihre Saiten ans Holz, reißende Pizzicati verstummen, sind nur durch die Multiplikation in den verschiedenen Stimmen vernehmbar, das Pianissimo der Bläser legt die Reibung des Luftstroms am Metall frei, die klackenden Laute der Klappenbewegungen. Der Flügel surrt, die Hämmerchen flüstern, Filz auf Metall, so schichten sich die endlosen Reihungen der Tonfolgen, die wie Schlangen durchs Gestein gleiten, neben-, über- und untereinander her, ohne sich jemals zu treffen. Nicht durch harmonische Reaktionen nähern sie sich einander, nicht innerhalb eines tonalen Systems kommunizieren sie, sondern aufgrund der Homogenität ihres Klangs. Eine Querflöte, die so leise geblasen wird, dass nur die durch den Hohlkörper hindurchfließende Luft zu hören ist, hat Marc gesagt, könne klingen wie eine Bratsche. Ein Klavier wie die abgedämpften Saiten eines Kontrabasses und so weiter, die Einheit des Materials. Erst wenn die Töne nach dem Anschlag zu schwingen beginnen, unterscheiden sie sich. Erst in der Metaphysik des schwebenden Raums, nach der Befreiung von der Materie, diversifizieren sie sich. »Damit drehen Sie Platon um«, hatte Breitenbach eines Winternachmittags nach dem Lesen der Partitur gesagt und seine Brille an beiden Gläsern mit der flachen Hand hinaufgeschoben.
    Am Ende des ersten Satzes, nachdem der leise Zusammenklang, der Einklang des Orchesters verstummt und die Klavierfigur wieder nackt und karg hervorgetreten und leise im Dunkeln verschwunden war, senkte sich ein Vorhang der Stille, der bald von vielen Einzelgeräuschen durchlöchert wurde. Hüstelnin allen Frequenzen und Füßescharren, Rascheln von Bonbonpapier. Auch das Lampenfieber kehrte zurück in Toms Körper, der sich hinsetzte und sich kaum noch an das Gewesene erinnern konnte. Mit einem langen Blick aus dem Augenwinkel suchte er Marc, dessen Gesicht aber weit entfernt, in einer anderen Welt war, im Zuschauerdunkel, ein weißer Fleck.
    Im zweiten Satz dürfen die Töne abheben und streben hoch bis unter ein hohes Gewölbe. Marietta schultert die Geige, setzt mit schwungvollem Einatmen den Bogen an, und aus den Saiten steigt ein Thema herauf, das sich knapp am harmonischen Zusammenhang entfaltet, sich senkrecht in die Luft schraubt, wo es in sich bewegt, libellenhaft, stillzustehen scheint. Das Klavier folgt ihm. Ohne das Abdämpfen der Saiten löst sich der dunkle Klang aus der Materie, der volle Klang der Akkorde breitet sich in den Raum wie die Schwinge eines Vogels. Eine Oboenstimme macht sich auf. Die surrende Linie eines Cellos.
    Jede Stimmführung, jede Figur in den einzelnen Instrumenten aber geht allein, von den anderen isoliert, bis scheinbar zufällig Trompete und erste Violine in der Luft einander begegnen und unisono eine kurze Wegstrecke zurücklegen, bevor sie – wie im Zeichentrickfilm – ihres physikalisch unmöglichen Schwebens gewahr werden, erschrocken innehalten, hinunterstarren und in das dunkle Tosen des Orchesters abstürzen und zerschellen. Expressives Aufbäumen folgt dem Untergang. Der aber endet nicht im Nichts, sondern im fröhlichen Schalten und Walten der Materie. Denn was bleibt, so will es der Komponist, ist das Geklapper der Gegenstände, der Klang der unsterblichen Dinge. Die gedämpften Celli, Kontrabässe und Geigen schratteln unter dem Holz umgedrehter Bögen, die Klaviersaiten krächzen unter dem Zupfen und Ziehen der Fingernägelwie fröhliche, selbständig gewordene Haushaltsgeräte, Toaster, Drucker und elektrische Zahnbürsten, und kichern leise.
    Dann Stille, weil dies ein Konzert ist und nicht die Wirklichkeit. Der zweite Satz ist beendet. Tom spürt wieder seine Hände, die zu ihm zurückgekehrt sind, sich wie eiskalte Klumpen auf seinen Schoß gelegt haben. Um ihn herum schließt sich der Saal, die Reihen der Zuschauer, die zu zwei Dritteln gefüllt sind, schießen heran, verschwimmen aber zu einem zweidimensionalen impressionistischen Wandbehang aus verschiedenen Farbtupfern, worin Schwarz, Beige und Grau dominieren, Letzteres ausgehend vom Haupthaar des Publikums, das, wie Tom annimmt, sicher größtenteils gezwungen worden ist

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