Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
hierherzukommen, entweder aufgrund einer Wichtigkeit im kulturellen Leben der Stadt (deren Grad unter anderem davon abhängt, ob man zu derartigen Veranstaltungen gezwungen wird oder nicht) oder durch ein schlechtes Gewissen der Neuen Musik gegenüber, dem es abzuhelfen gilt, womit heute Abend begonnen werden soll, oder durch ein Konzertabonnement. Ein paar Musikstudenten sind von ihren Professoren gezwungen worden zu kommen, wie er annimmt, ein paar Touristen durch den Umstand, dass für die Komische Oper keine Karten mehr da gewesen sind, einige Kritiker auch, die das neue Musikgeschehen zweitverwerten, indem sie ihr spärliches Geld mit dessen Besprechung verdienen, und viele dieser Gezwungenen überlegen sich vielleicht schon seit Beginn des Konzerts, wie lang doch eineinhalb Stunden sein können, wenn man nichts ärger sich wünscht als ein Glas Wein auf dem Sofa und die Tagesthemen.
Die Zeit aber, sie ist unbestechlich und für alle gleich. Sie bewegt sich in Richtung Satz Numero 3. Dieser Satz Numero 3ist ein leeres Blatt. Als Überschrift trägt er »Chaos? Nichts? Wohllaut?«. Tom hört, wie der Wandbehang anfängt, im Programmheft zu blättern, wie sich das Hüsteln allmählich zum Husten steigert, wie einzelne Farbtupfer beginnen, einander zuzuflüstern Ist es schon zu Ende? Können wir schon zum Sektempfang? Ist es wirklich schon zu Ende??
Das novus ensemble hält sich an den Instrumenten auf den Schößen fest und starrt in die Noten, die keine sind. Man starrt hinein, wie in einen Krater, den ein vorzeitlicher Meteorit mitten in einem Wohngebiet hinterlassen hat. Tom blinzelt. Er liest die Aufschrift »Bösendorfer« auf dem Flügel. Er hört das Hüsteln. Und er hört, wie das ensemble auf einer sich vielfach teilenden Bahn ins leere Universum hinausgetrieben wird, wo Schweigen herrscht und Ratlosigkeit und Hüsteln. Er hört, während er immer wieder »Bösendorfer« liest, wie die Säugetiere, die Tiere der Luft und des Wassers, die Amphibien und Gliederfüßer und Menschen umherirren und sich die Ohren zuhalten vor dieser Stille, wie sie sich von Hochhäusern hinabstürzen, auf den Beton vielspuriger Straßen, in die begradigten Wasserkanäle vor Bürogebäuden, wie sie hinter ihren Schreibtischen sitzen und abwarten, wie sie Dinge in ihre Telefone hineinsagen und Zeichen schreiben in ihre Computer, meistens Kalkulationen ihrer verbleibenden Zeit, und wie sie in Krankenhausbetten hinschrumpfen und sterben oder zu Hause ganz überraschend vor dem laufenden Fernseher, wie sie sich die Köpfe blutig schlagen an den Glastüren von Einkaufszentren und wie andere ihnen dabei zusehen und hüsteln.
Und da fällt ihm seine Klavierschülerin ein. Er weiß, dass sie im Wandteppich ist. Er schielt hinab und könnte schwören, dass die Klavierschülerin links außen, etwa in der zehnten Reihe sitzt.
Seine Hände nähern sich den Tasten, werden magnetisch angezogen von diesen Tasten, die sich von selbst senken in einer Ordnung, dass durch das Wunder der Verwandlung jene Melodie abermals entsteht, die sie am italienischen Abend in der Feinkostabteilung des Einkaufszentrums unter anderem gespielt haben. Sie startet in einer wehmütigen Moll-Verbindung in der rechten Hand, hält dann ein wenig inne, um den verklingenden Ton zu verabschieden, wie eine Geliebte, die in einen Zug steigt und langsam entschwindet. Dann aber entschließt sich der tröstende Rhythmus der Bassfigur, eine zurückgelehnte Rumba, die nun folgende Modulation des Themas zu begleiten. »I found my love in Portofino«, das ist der Text der sanft klagenden Melodie, die von der Grundtonart c-Moll in immer tiefere Lagen gleitet wie eine übers Gebirge zum Meer hinabsinkende Möwe oder ein Stück Papier. »I found my love in Portofino / perché nei sogni credo ancor« und so weiter, singt im inneren Ohr der imaginäre Bariton eines an den jungen Clark Gable erinnernden italienischen Fünfziger-Jahre-Stars, und Tom lächelt, als er hört, wie einer der Kontrabassisten, einer, der heimlich Jazzplatten zwischen Messiaen und Stockhausen herumstehen hat, mit einem ansteigenden Lauf einsetzt, während Ulli beginnt, mit den Besen über das Fell zu streicheln. Dann nimmt die Melodieführung Anlauf und überspringt eine Quarte zum d, erreicht mit einem Seufzer den Gipfelpunkt, eine Aussichtsplattform hoch über dem Ligurischen Meer an einem Regentag ohne Touristen, und segelt verhalten wieder hinab zur Grundtonart und zum letzten verklingenden »a
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