Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
wollte gerade klopfen und fragen, wo du bleibst«, sagte Jakob.
Sie setzte sich an den großen Tisch, dessen Fläche allerdings von Zeitungen, Büchern und Aktenordnern bedeckt war. Die Bücher waren in Leinen gebunden und verströmten einen muffigen Geruch. Mara las die Autorennamen: Pearl S. Buck, Simmel, Konsalik.
Mara kam das bekannt vor. Ihre sogenannten Eltern hatten solche Bücher im Regal gehabt. Sie hatte jedoch niemals erlebt, dass jemand darin gelesen hätte.
»Sind die für das Antiquariat?«
Jakob stellte Mara einen Henkelbecher mit Kaffee hin. Sahne und Zucker standen schon bereit.
»Für die kriege ich nichts. Das sind Buchklubausgaben. Die kannst du nicht mal auf einem Flohmarkt verkaufen.«
»Warum sind sie dann hier?«
Er setzte sich zu ihr. »Mein Onkel, von dem ich das Antiquariat geerbt habe, war ein solcher Büchernarr, dass er alles angenommen hat, was die Leute anschleppten. Jeden Tag kam jemand, der seine Bücher nicht zum Altpapier geben konnte oder wollte und sie daließ. Er hortete alles, bis ihm der Platz ausging. Mit ernsthafter Antiquariatsarbeit hat das nichts zu tun.«
Sie rührte in ihrem Kaffee. »Aber es ist romantisch. So ein ganzer Laden voller Bücher, die andere Leute schon gelesen haben, die sie vielleicht vererbt haben, die sie geliebt haben …«
»Man muss auch Geschäfte machen. Vieles läuft ohnehin nicht über das Ladenlokal. Das meiste wird von Leuten im Internet bestellt, und ich verschicke es dann.«
Irgendetwas in ihr wünschte sich plötzlich, sich voll und ganz mit Jakob zu verstehen. Mehr über seine Welt zu erfahren. In Harmonie mit ihm zu sein. Der Gedanke streifte sie, so etwas vergangene Nacht im Traum oder in einem halb wachen Moment gedacht oder sich vorgestellt zu haben.
»Wir werden uns heute etwas überlegen müssen.« Jakob war aufgestanden und schob ihr einen Teller, ein Glas Marmelade, Butter und eine Tüte hin.
»Brötchen?«, fragte Mara und deutete auf die Tüte.
»Bei uns heißt das Semmeln.« Er lächelte.
»Was müssen wir uns überlegen?«
»Jetzt, da du hier bist und es ganz klar ist, dass Deborah Fleur die Violine hat, brauchen wir eine Strategie.«
Sie griff zu und schnitt ein Brötchen auf.
»Georg wird eine Idee haben, hoffe ich. Ach übrigens, ehe ich es vergesse …« Er legte ihr ein paar Geldscheine hin. »Du hast doch alles verloren, als du geflohen bist.«
»Aber …« Mara wollte widersprechen. Sie wollte das Geld nicht annehmen. Doch ihr wurde klar, dass sie keine andere Chance hatte. Sie besaß nichts mehr. »Danke«, sagte sie.
Eine Klingel ertönte.
Die Wohnung lag im Stockwerk über dem Laden, und man erreichte sie über ein breites Treppenhaus, das sie am Abend zuvor heraufgekommen waren. Erst jetzt kam Mara auf die Idee, auf die Uhr zu schauen. Es war kurz nach halb neun. Wohl noch zu früh, um den Laden zu öffnen.
Sie hörte Jakobs Schritte draußen auf dem Flur. Dann kam er wieder in die Wohnung und sagte etwas Unverständliches. Unten gab es ein metallisches Geräusch, als die Tür aufgestoßen wurde. Dann kam jemand herauf.
»Es ist Georg«, sagte Jakob, der wieder in der Küchentür stand.
Kurz darauf betrat Wessely den Raum. Wie am Abend zuvor war er im dunklen Anzug mit Kragenspiegel. Jakob bot ihm nichts an, noch nicht einmal einen Kaffee. Das geschah sicher nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil die beiden sich kannten.
Wessely muss ein asketischer Mensch sein, überlegte Mara.
»Guten Morgen«, sagte der Geistliche.
»Warum kommen Sie nicht herein und setzen sich?«, fragte Mara und biss in ein Brötchen.
»Er steht lieber«, antwortete Jakob für ihn.
Wessely nickte. »Ganz recht. Das viele Sitzen ist ungesund. Ich muss meinem Körper die Zeit zum Stehen geben, die ich ihm all die Jahre vorenthalten habe.«
Mara spürte plötzlich eine seltsame Leere. Man hatte sie hier aufgenommen, aber man verlangte nichts von ihr. Man stellte ab und zu ein paar Fragen. Man identifizierte sie mit Orpheus – o ja, dieser Gedanke war ihr ganz entfallen. Diese Leute dachten tatsächlich, dass sie die Wiedergeburt von Orpheus war. Orpheus, der Religionsgründer, der an Wiedergeburt geglaubt hatte. Wie die Menschen in Asien und Indien. Hatte das nicht alles etwas mit Karma zu tun? Damit, wie man sein Leben gelebt hatte, ob man sich gerecht verhalten hatte? Wenn man sich etwas zuschulden kommen ließ, gab das Minuspunkte auf dem Karma, wenn man etwas gut machte, Pluspunkte. Wenn man zu viele Minuspunkte
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