Die Päpstin
ihren Bruder zu
schaffen. Doch er kam nicht. Johanna kroch zur Öffnung zurück und spähte hinaus.
Einige Schritte entfernt sah sie ihn. Er stand über die Leiche des Normannen gebeugt, den er getötet hatte, und zerrte an
der Kleidung des Mannes, als wollte er ihn zur Seite heben, um an irgend etwas heranzukommen.
|211| »Johannes!« rief sie. »Komm her zu mir! Schnell!«
Er starrte sie mit funkelnden Augen an – ein erschreckender, beinahe irrer Blick –, während er weiterhin an der Kleidung des
Toten zerrte. Aus Angst, ihr kostbares Versteck zu verraten, wagte Johanna es nicht, ihren Bruder noch einmal zu rufen.
Plötzlich stieß Johannes einen Jubelschrei aus und richtete sich auf, das Schwert des Normannen in der Hand. Verzweifelt winkte
Johanna ihn zu sich. Doch Johannes hob das Schwert zu einem spöttischen Salut und rannte davon.
Soll ich ihm folgen? Johanna zwängte die Schultern durch die Öffnung.
Irgend jemand – ein Kind? – schrie ganz in der Nähe; es war ein langgezogener und schriller Schrei, der schrecklich durchs
Kirchenschiff hallte und dann abrupt verstummte. Erneut stieg Furcht in Johanna auf, und sie zog sich wieder tiefer in den
Schutz des Altaraufsatzes zurück. Am ganzen Körper zitternd, drückte sie das rechte Auge an den Spalt zwischen den beiden
Brettern und spähte hindurch, hielt nach Johannes Ausschau.
Unmittelbar vor dem Spalt tobte ein Zweikampf. Johanna hörte das Klirren von Metall auf Metall, erhaschte einen kurzen Blick
auf gelben Stoff und sah das Schimmern eines zum Schlag erhobenen Schwertes. Mit einem dumpfen Laut fiel ein Körper zu Boden.
Die Kampfgeräusche verlagerten sich auf die rechte Seite des Kircheninnern, so daß Johanna plötzlich freie Sicht durch das
gesamte Kirchenschiff bis zum Eingang des Domes hatte. Vor den schweren, spaltweit geöffneten Türen lagen ungezählte Leichen
in ihrem Blut.
Die Normannen trieben ihre überlebenden Opfer vom Eingangsportal zurück und auf die rechte Seite des Domes.
Der Weg nach vorn war für Johanna frei.
Jetzt,
sagte sie sich.
Lauf zur Eingangstür
. Doch sie war vor Entsetzen wie gelähmt und konnte sich nicht von der Stelle rühren.
Ein Mann erschien am Rand von Johannas engem Sichtfeld. Seine Kleidung hing in Fetzen herunter, und er sah dermaßen verwirrt
und verängstigt aus, daß Johanna ihn zuerst gar nicht erkannte. Der Mann war Odo. Er schleppte sich in Richtung Eingangsportal
und zog dabei das linke Bein nach. In den Armen, fest an die Brust gedrückt, hielt er die große Bibel vom Hochaltar.
|212| Odo hatte den Eingang fast erreicht, als zwei Normannen ihm in den Weg traten. Er wandte sich den Angreifern zu und hielt
die Bibel in die Höhe, als wollte er böse Geister abwehren. Ein wuchtiger Hieb mit einem schweren Schwert durchschlug das
Buch, und die Klinge drang Odo tief in die Brust. Für einen Augenblick stand er verwundert da, als könnte er nicht begreifen,
was geschehen war, die beiden Hälften der Bibel in den verkrampften Händen. Dann kippte er nach hinten und rührte sich nicht
mehr.
Johanna zuckte vom Sichtschlitz zurück in die Dunkelheit des Altaraufsatzes. Um sie herum erklangen die Schreie der Sterbenden.
In einer Ecke zusammengekauert, barg sie den Kopf in den Armen, während ihr rasender Herzschlag ihr in den Ohren dröhnte.
Die Schreie waren verstummt.
Johanna hörte die Zurufe der Normannen in ihrer kehligen Sprache. Dann erklang das laute Krachen von splitterndem Holz. Zuerst
begriff Johanna nicht, was geschah; dann erkannte sie, daß die Normannen den Dom seiner Schätze beraubten. Die Männer lachten
und grölten; sie waren in Hochstimmung.
Sie brauchten nicht lange, um den Dom zu plündern. Nach einer Weile hörte Johanna, wie sie davonzogen, ächzend und stöhnend
unter der Last ihrer Beute, bis ihre Stimmen in der Ferne verebbten.
Stocksteif saß Johanna in der Finsternis des Altaraufsatzes und lauschte angestrengt. Alles war still. Langsam tastete sie
sich zur lichterhellten Öffnung vor und streckte zögernd und vorsichtig den Kopf hindurch.
Der Dom lag in Trümmern. Bänke waren umgestürzt und Behänge von den Wänden gerissen; Statuen lagen zerbrochen auf dem Boden.
Von den Normannen war nichts mehr zu sehen.
Schaudernd sah Johanna Berge von Leichen, von den Mördern achtlos aufeinandergeworfen. Nur ein paar Meter entfernt – am Fuße
der Stufen, die hinauf zum Altar führten – lag Fulgentius mit
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