Die Päpstin
sie den Leichnam des Bruders mit ihrem verschmutzten, zerrissenen Hochzeitskleid. Dann drückte
sie ihm sanft die Augen zu, bettete ihn gerade auf den Rücken und legte ihm die gefalteten Hände auf die Brust. Schließlich
erhob sie sich und bewegte die Arme in alle Richtungen, um sich an das Gewicht und das Gefühl der neuen Kleidung zu gewöhnen.
Sie war gar nicht so anders als die ihre, stellte Johanna fest; nur an den Handgelenken war sie ein bißchen enger. Sie betastete
das Messer mit dem Hirschhorngriff, das sie unter Johannes’ Gürtel hervorgezogen hatte.
Vaters Messer.
Es war alt; der einst weiße Griff war angedunkelt und gesplittert, doch die Klinge war scharf.
Johanna ging zum Altar. Dort band sie ihre Haube los, schüttelte ihr weißgoldenes Haar aus und senkte den Kopf, daß es sich
über die glatte, steinerne Oberfläche des Altars ergoß. Im Dämmerlicht sah das Haar fast weiß aus.
Johanna hob das Messer.
Langsam, sorgfältig begann sie zu schneiden.
Bei Einbruch der Dunkelheit trat die Gestalt eines jungen Mannes aus der Tür des verwüsteten Domes und ließ den Blick aus
scharfen, graugrünen Augen über die Landschaft schweifen. Am Himmel, an dem bereits die ersten Sterne funkelten, ging der
Mond auf.
Hinter den Trümmern der Häuser schimmerte die östliche Straße wie poliertes Silber in der zunehmenden Dunkelheit.
Verstohlen glitt die Gestalt aus dem Schatten des Domes. Keine lebende Seele beobachtete, wie Johanna die Straße hinuntereilte,
in Richtung des großen Klosters zu Fulda.
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|218| 12.
Der Versammlungssaal war überfüllt, und es herrschte ein solcher Lärm, daß man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte. Aus
der ganzen Umgegend des kleinen westfälischen Dorfes waren die Versammelten angereist, manche über viele Meilen hinweg, um
den
mallus
mitzuerleben. Die Leute standen Schulter an Schulter, schubsten und rempelten einander und scharrten dabei das frische Schilf
zur Seite, das auf dem hartgestampften Lehmboden verstreut worden war, wobei die im Laufe vieler Jahre mit Bier, Fett, Spucke
und tierischen Exkrementen getränkte Erde wieder zum Vorschein kam, die sich darunter befand, so daß die ranzigen, übelkeiterregenden
Ausdünstungen in die heiße, feuchte Luft im Versammlungssaal stiegen. Doch niemand schenkte dem Gestank viel Beachtung; in
fränkischen Wohn- und Versammlungsgebäuden war man derartiges gewöhnt. Außerdem war die Aufmerksamkeit der Menge auf den großen,
rothaarigen friesischen Markgrafen gerichtet, der als
missus
gekommen war, um Gericht zu halten und im Namen des Kaisers seine Urteile zu fällen.
Gerold wandte sich an Frambert, einen der sieben
scabini
, die ihm für diese Aufgabe zugeteilt worden waren. »Wie viele sind es heute noch?« fragte er. Der
mallus
hatte im Morgengrauen begonnen; jetzt war es früher Nachmittag. Seit acht Stunden saßen sie nun schon bei den Streitfällen
zu Gericht. Hinter dem hohen Tisch, an dem Gerold saß, wachten seine Gefolgsleute aufmerksam über ihre Schwerter. Er hatte
zwanzig seiner besten Männer mitgebracht – für alle Fälle. Seit dem Tod Kaiser Karls befand das Reich sich in einem Zustand
wachsender innerer Unordnung, und es wurde immer gefährlicher, das Amt eines kaiserlichen
missus
auszuüben. Mitunter begegneten die reichen und mächtigen Adeligen – Männer, die es nicht gewöhnt waren, daß man in ihrem Herrschaftsbereich |219| ihre Autorität in Frage stellte – den
missi
mit unverhohlener Feindseligkeit. Doch die besten Gesetze waren nichts wert, wenn man sie nicht durchsetzen konnte; aus diesem
Grunde hatte Gerold so viele Männer mit auf die Reise genommen – obwohl dies bedeutete, daß er Villaris mit nur einer Handvoll
Verteidigern hatte zurücklassen müssen. Doch die festen hölzernen Palisaden des Anwesens waren ein ausreichender Schutz gegen
die umherstreifenden Diebesbanden und Briganten, die in Gerolds Grafschaft seit vielen Jahren die einzige nennenswerte Bedrohung
für den Frieden und die Sicherheit dargestellt hatten.
Frambert warf einen prüfenden Blick auf die Liste der Kläger, deren Namen auf mehreren Streifen Pergament von je zwanzig Zentimeter
Breite geschrieben standen; die einzelnen Streifen waren an den oberen und unteren Rändern zusammengenäht und bildeten eine
Rolle von insgesamt etwa fünfzehn Meter Länge.
»Heute sind es noch drei, Herr«, beantwortete Frambert Gerolds Frage.
Gerold seufzte schwer. Er
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