Die Papiermacherin
Moment hatte alles, was man sie in dieser Hinsicht gelehrt hatte, keine Bedeutung mehr. Sie begegnete dem bohrenden Blick Toruks und hielt ihm stand.
Toruk deutete mit der Spitze seines Schwerts auf den Schädel, um seine unmenschliche Forderung zu unterstreichen.
Li senkte nicht den Blick. »Du sprachst im Zorn – und der Zorn lässt dich vergessen, was dein Glaube von dir fordert!«
Er runzelte die Stirn. »Was redest du da? Du sollst tun, was ich sage, oder dein Schädel rollt neben den dieses unglücklichen Hundesohns!«
»Du magst tun, was immer dir beliebt. Es ist niemand da, der dich daran hindern könnte – aber ich werde nicht machen, was du von mir verlangst«, erklärte Li. Die Festigkeit, mit der sie diese Worte sprach, überraschte sie selbst am meisten. In diesem Moment fühlte sie eine innere Stärke wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, ihr Leben war eigentlich zu Ende, und es gab auch nichts, was ihr noch hätte Furcht einflößen können. In diesem Moment dachte sie an das, was die tibetischen Wandermönche verbreiteten, die auch nach Xi Xia gelangt waren. Die Lehre Buddhas, wonach man sich von allem Irdischen lösen sollte, um vom Leid erlöst zu werden. Sie hatte das nie wirklich verstanden, aber jetzt glaubte sie, zu begreifen, was die Tibeter meinten.
Das Gesicht Toruks lief dunkelrot an. Er trat auf sie zu. Seine Schritte waren schnell und energisch. Den Griff des Schwerts hielt er nun mit beiden Händen. Die Nasenflügel bebten vor Wut.
Er hatte gerade die Klinge zum Schlag erhoben, da ließ ihn ein Ruf augenblicklich innehalten.
»Toruk!«
Ein Mann mit weißem Haar und einem ebensolchen, dünnen Bart stand da, gestützt auf einen Stock aus Hartholz, der ihm bis zur Schulter reichte und mit mannigfachen Schnitzereien versehen war. Der Alte wurde von zwei jungen Kriegern flankiert, die beide Schwerter sowie Pfeil und Bogen trugen.
Toruk sah dem Alten wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Es war sein Vater. Zweifellos traf Toruk die meisten Entscheidungen, aber der Alte genoss enormes Ansehen und war offenbar vor ihm der Anführer des Stammes gewesen. Soweit Li mitbekommen hatte, hieß er ebenfalls Toruk und hatte die meisten Führungsaufgaben längst seinem Sohn überlassen. Aber niemand nannte ihn bei seinem Namen. Stattdessen wurde er nur der Ruhmreiche genannt. Allerdings lagen die Tage seines Ruhmes wohl schon lange zurück. Jetzt konnte er froh sein, sich über längere Zeit auf zwei Beinen zu halten.
Der jüngere Toruk drehte sich zu seinem Vater herum und ließ dabei die Klinge sinken.
»Ich höre deine Stimme, Vater!«, sagte er.
»Ich will, dass die Papiermacher zu mir gebracht werden. Sofort.«
»Ja, Vater …«
Der alte Toruk deutete auf den Schädel zu Lis Füßen. »Schaff die Fratze dieses Tanguten fort … Sie erinnert mich an die Gesichter der Männer, die ich im Kampf erschlug … Eines Tages verfolgen dich die Seelen der Erschlagenen im Schlaf, Sohn Toruk. So sagt es der Prophet Mani, und ich will nicht, dass hier etwas geschieht, das vor den Augen Gottes abscheulich wäre. Es gibt keinen Glauben, der nicht die Toten verehrt, auf dass sie nicht zornig werden. Willst du da die einzige Ausnahme in der weiten Steppe sein, mein Sohn?«
»Nein, Vater«, murmelte der junge Toruk, in dessen Adern das Blut im Augenblick kochen musste. Aber wenn es auch sonst kaum eine Macht geben mochte, die dazu in der Lage war, ihm Beherrschung aufzuzwingen, bildete sein Vater hier zweifellos die Ausnahme.
Warum hatte er nur so lange geschwiegen? Warum hatte er dem perfiden und den Glauben jedweden Bekenntnisses verhöhnenden Spiel seines Sohnes tatenlos zugesehen? Diese Gedanken beherrschten Li jetzt. Wäre nicht zuvor schon genug Anlass gewesen, den Hang zur Grausamkeit bei Toruks Sohn zu dämpfen? Li schluckte, aber sie senkte den Blick nicht, als dieser sich noch einmal zu ihr umdrehte.
»Du hast Glück, dass mein Vater ein so großes Herz hat«, sagte er. »Das sollte dich beschämen, Han-Frau!«
Er rief einen der Gefangenen herbei und befahl ihm, den Schädel fortzubringen. »Verbrenne ihn auf der Anhöhe dort hinten!«, forderte er. »Aber warte mit dem Entzünden des Feuers, bis sich der Wind in eine andere Richtung gedreht hat, auf dass wir den Gestank des Tanguten nicht ins Lager geblasen bekommen.«
Etwas später wurden Li, ihr Vater und Gao in das Zelt des alten Toruk geführt. Er saß auf einem Teppich und hielt ein Buch in der
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