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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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hatte und sich illegal in Deutschland aufhielt. Freunde und Familie waren entsetzt. Ihr Freund hat keinen Schulabschluss, keinen Job, kein Geld – und nicht mal eine Krankenversicherung. Anna heiratet ihn, sie ist erst 19. Ihre Liebe zu ihm ist auch eine Rebellion gegen ihr Umfeld. »Auf einmal war dieser Mensch, mit dem ich über alles reden konnte, der mir das Wichtigste überhaupt war – aber ihm war all das, was mir bisher wichtig war, egal«, sagt Anna, »Anerkennung, Eliteschule, Noten, das alles spielte in seinem Leben keine Rolle. Und ich begann mich zu fragen: Warum ist mir das so wichtig? Warum mache ich mir so einen Stress? Warum machen die anderen mir so einen Stress?« Anna sagt, seit dieser Hochzeit fühle sie sich frei. Sie haben sich ein paar Jahre später scheiden lassen, es passte nicht, ihren heutigen Freund hat sie auf einer dieser Stehpartys am Institut kennen gelernt, sie haben mehr gemeinsam, aber sie haben auch andere Themen als den Beruf. Sie ist trotzdem froh, diesen wahnsinnigen Schritt getan zu haben kurz nach dem Abitur, das sie auch gleich noch auf Französisch ablegte, sie ist froh, diesem peruanischen Mann geholfen zu haben. Und sich selbst. Er konnte in Deutschland bleiben. Und sie lernte, dass es mehr gibt, als die Beste zu sein.
    Ich habe alle Schüler aus meiner alten Klasse, die ich finden konnte, getroffen – außer Ahmed. Arzu und Fatih sind die einzigen Mitschüler, die aus einem türkischen Elternhaus stammen und eine »deutsche« Karriere gemacht haben. Und sowieso gibt es überraschende Werdegänge fast nur im negativen Sinne.
    Fabian, der Junge auf dem Schrank, brauchte eine Weile, bis er wieder ins Leben hinuntergeklettert war. Er kommt aus einem Bildungsbürgerhaushalt, alles war da, Bücher, Geld, Geduld. Aber kein Vater, sagt Fabian und keine Grenzen. Fabian kiffte sich gänzlich willenlos. Später holte er seine Fachholschulreife nach, er lässt sich gerade zum Grafikdesigner ausbilden. Fabian sagt, seine Geschwister hätten beide promoviert, er falle aus der Reihe, aber das sei doch immerhin etwas. Die Pubertät, die Freunde, die Mutter, unberechenbare Einflüsse sind es, die verhindert haben, dass Kifferfabsi dem gefolgt ist, was die Geschwister ihm vorgemacht haben. Glücklich ist er trotzdem geworden.
    Das kann man auch von Moritz behaupten, der heute Chefkoch in einem bayrischen Ferienhotel ist. Seine Mutter war entsetzt, als er vor dem Abitur die Schule verließ. Jetzt prahlt sie damit, dass er die beste Crème brûlée mache. Moritz sagt, er habe irgendwann rebellieren müssen gegen die schöne, heile, linksalternative Welt um ihn herum, alle seien so satt gewesen. Heute macht er die Menschen gerne satt. Er hatte seinen Ausbruch. Genau wie Max, der sich in den Berliner Clubs und in den Pillen verlor, bis ihm sein Vater im alten Kinderzimmer einschloss, in dem wir riesige Playmobil-Landschaften aufgebaut hatten. Heute arbeitet Max in einer Werbeagentur. Er sagt: »Meine Eltern dachten immer, Drogen und Schulschwänzer gibt es nur unter Arbeitslosen. Ich habe ihnen das Gegenteil bewiesen.«
    Wenn ich mit den Mitschülern von früher zusammensitze, wird mir immer wieder klar, wie viele Zufälle das Leben bestimmen. Die Beziehung der Eltern. Welche Freunde man kennen lernt. Auf welche Party man wann geht. In welches Mädchen man sich verliebt. Welches Praktikum man absolviert. Doch Fabian, Moritz und Max sind die einzigen deutschen Mitschüler, die von den Zufällen vorübergehend aus der Bahn, aus der behüteten Welt geworfen wurden. Die anderen Deutschen, mit denen ich als Kind viel zu tun hatte, treffe ich dort, wo ich sonst meine Freunde von heute treffe, sie studieren, haben ihren ersten Job begonnen, leben in schönen Wohnungen unweit der Blücher-Grundschule, zweifeln oft, ob sie nicht doch noch mal etwas anderes probieren sollen, erinnern sich gerne an die Grundschule. Es geht ihnen gut. Sie verstehen sich mit ihren Eltern, die ihnen Vieles ermöglicht haben. Sie ähneln ihren Eltern oft frappierend, nicht nur äußerlich, sie eifern ihnen oft auch im Beruf nach. Judith zum Beispiel arbeitet jetzt in der gleichen Position bei der gleichen Krankenkasse wie ihre Mutter. Sie erinnert sich an Cem, der ihr noch Jahre, nachdem er unsere Klasse verlassen hatte, liebeskrank vor der Haustür auflauerte.
    Auch Tanja und Steffi führen ein Leben, das dem ihrer Mütter stark ähnelt. Tanja und Steffi waren lange Zeit einfach nur zwei von vielen Mädchen, die mir

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