Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
geheimnisvoll vorkamen und die ich deshalb alle doof fand. Tanja war etwas zu dick. Steffi etwas zu dünn. Erst als wir alle begannen, wirklich zu wachsen, als nicht mehr alle die gleichen Regenjacken und Gummistiefel trugen, nicht mehr die gleichen Kinderlieder hörten und sich für Kastaniensammeln interessierten, wurde klar, dass Tanja und Steffi nicht nur anders waren, weil sie Mädchen waren, sondern dass sie auch anders waren als die anderen Mädchen. Beide hatten Mütter, die alleinerziehend waren, beide lebten in Neubausiedlungen, dem ewigen Kontrast zum gehobenen Altbau in Kreuzberg, und beide schminkten sich früh.
Tanja lebte mit ihrer sehr jungen Mutter im Haus neben unserem Haus. Wenn wir uns morgens über den Weg liefen, sagten wir nichts, einmal streckte sie mir die Zunge raus. Tanja ist noch immer rund und rotbäckig, sie wurde noch jünger Mutter als ihre Mutter und holt gerade ihren Realschulabschluss nach. Bisher hat sie sich um ihren Sohn gekümmert. Steffi hat schon zwei Kinder und sieht das als ihren Hauptberuf. Beide Frauen führen komplizierte Beziehungen. Beide sind einen Weg gegangen, der absehbar war. Ich wollte erfahren, warum so viele meiner nichtdeutschen Mitschüler durchs Raster gefallen sind. Und ich erfahre, dass es den wenigen deutschen Kindern aus sozial schwachen Familien nicht anders ergangen ist.
Diverse Studien bemängeln immer wieder, dass Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus sozial schwachen Familien – was oft in Kombination auftritt – im deutschen Schulsystem benachteiligt würden. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Chancen im stark selektiven deutschen Schulsystem ist größer als in vielen anderen vergleichbaren Ländern. Das Problem sind ja derzeit auch an der Blücher-Grundschule von Anfang an die Unterschiede zwischen »NdH«-Schülern und »Kinderladen«-Schülern, die ungleichen Startvoraussetzungen. Das war schon zu unserer Einschulung ein Problem, aber das Problem ist in den zwanzig Jahren dazwischen größer geworden. Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky fordert deshalb schon länger eine Kindergartenpflicht für Kinder ab einem Jahr. Buschkowsky sagt, nur so könnte man die Problemkinder in den Problemkiezen erreichen. Die Lernforschung sagt: Drei Jahre dauert es, bis sich ein Kind in einer Sprache zuhause fühlt. Die meisten türkischstämmigen Eltern aber schicken ihre Kinder nur ein oder zwei Jahre in eine Kita.
Wenn man Herrn Sontheimer fragt, was getan werden müsse, damit alle Schüler in seinen Klassen eine Chance haben, sagt er: Man muss mehr Geld ausgeben. Deswegen wird nichts passieren. Man müsste, sagt Herr Sontheimer, die Vorschule früher beginnen lassen. Die Klassen verkleinern. Die Betreuung nach Unterrichtsende ausbauen. Die Lehrer fortbilden. Sozialpädagogen anstellen. Die Abschlüsse arabischer Erzieherinnen anerkennen. Mehr Lehrer mit Migrationshintergrund anstellen. »Und man muss den Beruf des Grundschullehrers aufwerten«, sagt Herr Sontheimer, »für viele sind wir ja nur halb so viel wert wie ein Gymnasiallehrer. Dabei werden die wichtigsten Weichen in der Grundschule gestellt. Wir haben doch viel mehr Verantwortung!«
Ausgerechnet die Berliner Rütli-Schule ist ein Beispiel, wie der Umbau einer Schule gelingen kann. Die Hauptschule in Neukölln mit neunzig Prozent Ausländeranteil machte 2006 bundesweit Schlagzeilen, weil die Lehrer sich öffentlich weigerten, weiter zu unterrichten. Daraufhin schob der Senat für 24 Millionen. Euro ein beispielloses Aufbauprogramm an, finanzierte den Campus Rütli, eine integrierte Haupt- und Realschule plus gymnasiale Oberstufe, Elternzentrum, Werkstätten, Mensa und Sporthalle – und Sozialarbeiter. Die Gewalt ist seitdem zurückgegangen. Lehrer unterrichten wieder gern. Die Schule bietet jetzt Perspektiven. Die Schüler nutzen sie. Aber die Rütli-Schule ist eine Schule im Fokus der Öffentlichkeit. Sie musste gerettet werden, sonst hätten sich die verantwortlichen Behörden weiter blamiert. Die Rütli-Schule ist eine Ausnahme.
Nach seinem mehrstündigen Frontalunterricht am Esstisch glaube ich, dass wir alle Herrn Sontheimer ein wenig Unrecht getan haben. Ich glaube, auch die Kollegen kommen nicht mit seiner unnahbaren Art zurecht, sie wählten nicht ihn, sondern Frau Schmidtke zur neuen Schulleiterin. Herr Sontheimer ist im besten, im alten Sinne ein Sozialdemokrat. »Das Problem ist, dass wir an der Grundschule die Unterschiede nicht
Weitere Kostenlose Bücher