Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
fünften Klasse auf ein recht elitäres Gymnasium. »Du weißt, ich war eine sehr perfektionistische Schülerin«, sagt Anna, »ich wollte unbedingt ab der fünften Klasse zwei Fremdsprachen lernen, ich wollte mehr gefordert werden, und meine Eltern wollten das auch.« Ihre Mutter war als junge Frau aus Peru nach Deutschland gekommen, die Mutter war gefeierte Tänzerin, der Vater Professor. Ich erinnere mich, dass Anna weinte, als sie einmal eine Zwei bekam.
Anna, die schon immer die Größte von uns war, war die beste Freundin von Arzu, der Kleinsten von uns. Auch Arzu hatte nur selten eine Zwei. Arzu, deren Familie aus der Türkei stammt, und Anna waren unzertrennlich. Nur einmal hatten sie Streit und lernten deshalb nicht gemeinsam für die anstehende Biologie-Klausur. Arzu schrieb dann fast nichts auf ihr Aufgabenblatt, sie weinte noch während der Klausur. Danach versöhnten sich Anna und Arzu, gingen zu Frau Schach und erklärten ihr, dass sie sich gestritten hatten und deswegen nicht lernen konnten. Dass Arzu deshalb an der Klausur gescheitert sei. Arzu durfte den Test daraufhin wiederholen und bekam ihre Eins. Für uns Zweier- und Dreierjungs war das der endgültige Beweis dafür, dass »Maxi« und »Mini« einen Schuss hatten und die Welt ungerecht war. »Arzu und ich haben uns gegenseitig angespornt«, sagt Anna, »unsere Familien waren sehr unterschiedlich, aber wir haben uns sofort verstanden, wir lagen auf einer Wellenlänge.« Es muss die Streberwellenlänge gewesen sein. Arzu wechselte mit Anna nach der vierten Klasse auf das Gymnasium, ihr Vater war ein sehr leistungsbewusster Mann, »der viel von seiner Tochter gefordert hat«, sagt Anna. Arzus Vater führte ein Geschäft für Küchenmaschinen. In der Oberstufe stritten sich Anna und Arzu dann zum zweiten Mal und diesmal ging es um wichtigere Dinge, es kam nicht zur Versöhnung. Anna hat Arzu seit dem Abitur nicht mehr gesehen.
»Ich mochte unsere Grundschule«, sagt Anna, »aber ich war heilfroh, als ich endlich aufs Gymnasium konnte, ich war damals ganz verrückt nach Noten und Fleißpunkten.« Anna sagt, sie sei dennoch glücklich, dass sie die ersten vier Jahre in Kreuzberg zur Schule gegangen sei, »ich habe es so erlebt, dass es viele Kinder deutlich schwerer haben, ich habe soziale Benachteiligung hautnah erlebt.« Sie erzählt von der Grundschule wie von einer Forschungsreise und sagt, heute, in ihren abgezirkelten Kreisen, ernte sie immer wieder Anerkennung und Respekt für diese Erfahrung. Sie hat als Einzige im Institut Kinder vor Augen, – Murat, Elin oder Dina – wenn sie eine Schulstatistik durchgeht und dort Zahlen liest, die zeigen, dass ein Migrationshintergrund an deutschen Schulen meist einen Nachteil bedeutet. »Wir waren ja nicht direkt eine Ghetto-Klasse«, sage ich. »Nein, nein«, sagt Anna, »aber im Vergleich zu den Klassen, die ich später besucht habe, schon. In meinen späteren Klassen gab es keine Türken oder Araber.«
Die Geschichte von Anna und Arzu könnte aus einem Leitfaden der Integrationsbeauftragten stammen. Hier das deutsche Mädchen aus dem Akademikerhaushalt. Dort das Mädchen aus der Einwandererfamilie. Sie werden beste Freundinnen. Lernen gemeinsam, spornen sich an. Die Deutsche kommt durch ihre Freundin in Kontakt mit Lebenswelten, die sie nicht kannte. Und die Deutsch-Türkin kommt durch ihre Freundin an ein Gymnasium, das für sie sonst wohl verschlossen geblieben wäre.
Von Arzu höre ich wenig später. Sie ist gar nicht mehr so klein. Arzu steckt mitten im Prüfungsstress und wird bald Grundschullehrerin sein, die zweite aus unserer Grundschulklasse. Sie sagt, sie will etwas zurückgeben. Wie Miriam will Arzu ein Vorbild sein, ein Vorbild mit Migrationshintergrund. Sie sagt, es sei wichtig gewesen, dass ihre Familie damals von Kreuzberg in den beschaulicheren Bezirk Charlottenburg gezogen sei, ganz nah an den längst verblassten Prachtboulevard Kurfürstendamm. »Meine Eltern wollten mehr vom Leben in Deutschland als viele andere türkische Eltern«, sagt Arzu, »und sie wollten raus aus dem Klischeebezirk. So habe auch ich keine Klischeelaufbahn hingelegt. Es gibt immer mehr junge türkische Lehrer, aber ich werde immer noch oft genug überrascht angeschaut von Kollegen, die mich zum ersten Mal treffen.«
Auch für Anna hatte das Leben noch eine Überraschung parat. Es konnte nicht so makellos weitergehen. Sie lernte einen jungen Peruaner kennen, der das Heimatland von Annas Mutter verlassen
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