Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Museumsbesuche, nichts. Diesen Kindern fehlt es an elementaren Dingen, aber die Eltern erwarten von mir, dass ich ihre Kinder aufs Gymnasium schicke. Viele Kollegen geben deswegen ganzen Klassen eine Gymnasialempfehlung, selbst wenn sie wissen, dass darunter Schüler sind, die auf einem Gymnasium keine Chance haben werden. Aber das kümmert sie nicht, ihr Job ist schließlich nach der sechsten Klasse erledigt. Und das Ergebnis sind überforderte Schüler, die spätestens in der achten Klasse sitzen bleiben, die früher oder später doch auf eine Realschule oder eine Gesamtschule kommen und sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen.«
Herr Sontheimer, den wir für einen fiesen Notenfetischisten hielten, hält sich selbst für einen äußerst gerechten Lehrer. Er sagt, ihn störe die »Vorsortierung« nach schlechten und guten Schülern, die schon in der ersten Klasse beginne. »Aber sie sortieren mit ihrer Benotung doch auch«, sage ich. »Noten sortieren immer«, sagt Herr Sontheimer, »mir sind natürlich die Hände gebunden, ich muss gewisse Kenntnisse abfragen und bewerten, aber ich versuche, jedes Kind gleich zu behandeln. Jedes Kind muss ordentlich sein.«
»Das erklärt die Schreibübungen für Erstklässler, die ich machen musste«, sage ich.
»Richtig«, sagt Herr Sontheimer, »ich erinnere mich. Darüber haben sich auch deine Eltern beschwert. Aber wenn ich von schwachen Schülern erwarte, dass sie sauber schreiben, erwarte ich das auch von besseren Schülern. Ich mache keinen Unterschied zwischen guten und schlechten Schülern. Ich bilde nicht nur Gymnasiasten aus, sondern auch Hauptschüler. Es muss doch nicht jeder aufs Gymnasium gehen.« Herr Sontheimer hat natürlich Recht. Bloß: Das dreigliedrige deutsche Schulsystem orientiert sich noch heute am Ständesystem und wird dem Arbeitsmarkt schon lange nicht mehr gerecht. Deswegen ist ja sogar die CDU-Spitze in diesem Jahr zu der späten Erkenntnis gelangt, dass die Hauptschule abgeschafft gehört, was in vielen Bundesländern bereits passiert ist. Hauptschulen qualifizieren heute niemanden mehr für einen praktischen Beruf, sondern sind zu Restschulen verkommen, an denen sich Schüler versammeln, die sich schwer tun und mit denen sich die Lehrer noch schwerer tun. Stattdessen solle es nach Vorstellung der CDU neben den Gymnasien bald eine Oberschule geben, die Realschule und Hauptschule vereint. Herr Sontheimer sagt, das gehe ihm nicht weit genug. So würden wieder nur die Verlierer an einer Schule versammelt. Sein Traum wäre eine einzige Oberschule für alle Schüler, mit »individueller Förderung«, was in den Worten der Lehrer immer klingt wie ein wunderbares, fernes Versprechen und wohl heißen soll, dass sie genug Zeit hätten, sich mal alleine mit einem Schüler hinzusetzen. Herr Sontheimer spricht von einem Lernumfeld, das »leistungsschwache Schüler« motiviert und in dem ihre »persönlichen Stärken« erkannt werden. »Aber das wird wohl ein Wunsch bleiben«, sagt Herr Sontheimer, »man sieht das ja schon an den jetzigen Gesamtschulen, dass dort wieder zwischen Gymnasiasten und Realschülern unterschieden wird, überall wird heute getrennt und kategorisiert.« Ich frage Herrn Sontheimer, ob »individuelle Förderung« nicht besser funktioniere, wenn Schüler mit ähnlichen Talenten in kleinen Gruppen zusammen lernen, als wenn alle Schüler, schnelle und langsame, möglichst lange gemeinsam in eine Klasse gehen. Aber in Herrn Sontheimers großem Gesamtschultraum, dessen Erfüllung er wohl nicht mehr erleben wird, gibt es beides: gemischte Klassen und Raum für kleine Gruppen. Und er fragt: »War nicht deine Klasse der Beweis dafür, dass es für alle am besten ist, wenn alle zusammen die Schule besuchen?«
Ein paar Tage später muss die Antwort auf diese Frage ein klares Ja sein. Ich besuche Anna an ihrem Arbeitsplatz. Anna promoviert derzeit an einem sehr renommierten Institut für Sozialforschung. Ihr Thema: Erwachsenenbildung im Bundesländervergleich. Anna ist größer als ich, sie trägt einen Anzug und begrüßt mich mit einer Führung durchs Haus, viele Namen, viele Titel, viele Ambitionen. Anna ist elegant und hübsch und erfolgreich und stolz darauf. Sie bittet in die Kantine. Honore Herren in Cordsakkos stecken ihre Köpfe über Schweineschnitzel mit Kroketten zusammen. Anna habe ich sehr lange nicht gesehen, noch länger als die anderen aus unserer Klasse, denn sie verließ uns, bevor Herr Sontheimer kam. Sie ging ab der
Weitere Kostenlose Bücher