Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
aufholen können«, sagt Herr Sontheimer, »wer mit Defiziten eingeschult wird, verlässt auch mit großen Defiziten die Grundschule.«
Vor zwei Jahren veröffentlichte das Institut, für das Anna tätig ist, eine Studie, die einen weiteren Aspekt der sozialen Ungerechtigkeit an deutschen Grundschulen offenbarte. Die Forscher wiesen nach: Viele Schüler wechseln nach der Grundschule auf eine falsche Oberschule. Rund dreißig Prozent der Schüler besuchten einen weiterführenden Schultyp über oder unter ihrem Leistungsniveau. Dabei geht es nicht nur um die Überförderung, die Herr Sontheimer seinen Schülern ersparen will, sondern vor allem um die Unterforderung. Und die trifft nur ganz selten Kinder aus Akademikerfamilien, fast vier Fünftel von ihnen besucht ein Gymnasium, nur ein Drittel der Schüler aus Haushalten ohne einen solchen Bildungshintergrund besuchte dagegen ein Gymnasium. Auf Hauptschulen ergibt sich ein umgekehrtes Bild: Dort lernt jedes vierte Kind aus einem nicht-akademischen Elternhaus – aber nur jedes zwanzigste Kind, dessen Eltern einen Hochschulabschluss haben.
Die Forscher bemängelten in ihrem Resümee, dass die Zuweisungspraktiken fatale Folgen haben: Vielen Kindern würde die Chance auf ein späteres Studium frühzeitig verbaut, sie könnten ihr Potential nicht nutzen, ihre Motivation werde nicht gefördert. Die Lösung sei: die Schüler möglichst spät in unterschiedliche Bildungswege zu schicken. Nun dauerte unsere Grundschulzeit schon sechs Jahre, länger als in den meisten Bundesländern. Und trotzdem sagt Herr Sontheimer: »Es kann natürlich gut sein, dass manche Oberschulempfehlung von mir nicht richtig war. Natürlich kann ich unter den Bedingungen, in denen ich arbeite, nicht jede Begabung erkennen, und auch nicht jedes Defizit.«
Am Ende erzählt Herr Sontheimer, dass nur ein Schüler ihm einen Brief geschrieben habe zum Abschied. Er hat diesen Brief in seinen Akten, selbstverständlich. In krakeliger Schrift steht dort auf einem Ninja-Turtle-Briefpapier: »Lieber Herr Sontheimer, danke für die Zeit mit Ihnen. Sie waren ein guter Lehrer. Ihr Sven«. »Sven?«, fragt Herr Sontheimer, »erzähl mir etwas von diesem Sven, du weißt, ich habe seitdem so viele neue Schüler kennen gelernt, viele von ihnen hießen Sven.«
Da fällt es mir ein. Ich habe Sven vergessen. Ich hatte ihn als Ersten erreicht. Und habe ihn doch nicht besucht. Es ist wie früher. Sven kriegt keinen Besuch. Herr Sontheimer schaut auf die Zensurenliste: »Ohje, viele Vieren, viele Fünfen, auch eine Sechs, nur in Kunst eine Zwei!« Sven kam auf eine Hauptschule.
»Muss ein netter Junge gewesen sein«, sagt Herr Sontheimer und faltet den Abschiedsbrief zusammen, »hoffentlich hat er die Kurve gekriegt.« Aber natürlich weiß Herr Sontheimer, dass Sven nicht die Kurve gekriegt hat. Er musste ihn auf eine gerade Strecke schicken. In eine Sackgasse.
9.
Die Bio-Invasion
Wo ich auf der Suche nach meinen ehemaligen Mitschülern auch hinkomme, überall wurden Geschäfte eröffnet, die sich rühmen, »biologische« Produkte zu verkaufen. Bio-Supermärkte. Bio-Restaurants. Bio-Bäcker. Bio-Eisdielen. Bio-Modeboutiquen. Sogar gegenüber des maroden Neubaus, in dem Aylin lebt, glänzt ein »Bio-Bistro«. Im Angebot: Bio-Espresso und Bio-Nusshörnchen. Bio rückt bis an die Grenzen des Bezirks vor. Auf unserer Sauftour wunderte sich Cem über »die vielen Biomuschi-Kneipen«. Und im Kinderspielzeugladen unten in dem Haus, in dem einst Ahmed lebte, wird Bio-Süßholz angeboten, auf dem die Kleinen herumnagen können. Bio, das habe ich gelernt, steht für das neue Kreuzberg, das teure Kreuzberg. Bio ist das Label der Zugezogenen. Bio ist die Opposition zum alten Berlin. Cem und Aylin und Elin und Murat gehören nicht zur Bio-Stammkundschaft. Aber niemand hasst Bio so sehr wie Sven.
Wir stehen in der Markthalle gleich um die Ecke der Wohnung, in der ich ihm einst Nachhilfe geben sollte und in der Sven noch immer wohnt, weil er sich keine eigene Wohnung in dieser Gegend, die seine bleiben soll, leisten kann. Die Markthalle wurde vor kurzem renoviert. Es ist jetzt eine sehr saubere Markthalle, steril wie ein Operationssaal. Nach der Renovierungsphase haben neue Stände eröffnet. Es gibt einen Stand für Bio-Fleisch, einen Bio-Bäcker, Bio-Schafskäse aus der Toscana, spanische Oliven und österreichischen Bio-Wein. Junge Mütter schieben Kinderwägen durch die Halle, die so viel kosten wie ein Kleinwagen. Sven
Weitere Kostenlose Bücher