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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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Stimme. »Hallo Patrick«, antwortet Herr Sontheimer blechern, »du musst in den fünften Stock. Wenn du den Gang bis ganz nach hinten entlanggehst, kommst du zu einem Fahrstuhl. Nimm den Lift bis zu fünften Etage. Dort läufst du den Gang wieder zurück, die letzte Tür auf der rechten Seite ist meine, Sontheimer steht darauf.« Herr Sontheimer traut mir wohl immer noch nicht sehr viel zu. In genau diesem Tonfall versuchte er einst, mir zu erklären, wie ich eine Wurzel berechnen müsse.
    Herr Sontheimer erwartet mich mit seinem freundlich-misstrauischen Sontheimer-Lächeln. Er ist nicht gealtert, das Haar war schon immer grau und akkurat gestutzt, das karierte Hemd war schon vor zwanzig Jahren bis zum obersten Knopf zugeknöpft, Herr Sontheimer ist eine alterslose Lehrererscheinung. Er hält lange meine Hand und schaut mir tief in die Augen. »Warte kurz«, sagt er, »ich versuche dein Gesicht einzuordnen. Ja, richtig, Patrick, ich erkenne dich wieder. Du warst doch kürzlich an der Schule, du bist mit Frau Schach an mir vorbeigelaufen. Hättest mich ruhig ansprechen können, statt mich erst später anzurufen.« Ich komme ins Stottern. »Sie wirkten sehr, äh, beschäftigt, ich weiß nicht …« »Schon in Ordnung«, sagt Herr Sontheimer und schiebt mich an den Esstisch. Er hat das Treffen unter Kontrolle, wie eine Mathestunde, alles scheint akribisch geplant.
    »Patrick, während ich jetzt für uns beide einen Kaffee zubereite, erzählst du bitte, was du seit der Grundschule erlebt hast.« Ich fange damit an, dass ich hauptberuflich schreibe, da unterbricht mich Herr Sontheimers sanft drängelnde Stimme aus dem Nebenzimmer. »Das überrascht mich nicht. Ich habe natürlich in Vorbereitung auf dieses Treffen einige Unterlagen von damals hervorgeholt. Deine Zensuren in Deutsch waren formidabel. In den Naturwissenschaften hattest du jedoch einige Schwierigkeiten.« Herr Sontheimer setzt sich zu mir. Er legt einige Hefter auf den Tisch. Sämtliche Zensurenlisten unserer Klasse, Zeugnisse, Protokolle. Frau Schach hatte nur eine Kiste mitgebracht, in der lose Blätter von früher lagen. Herr Sontheimer dagegen hat über jeden Schüler, den er unterrichtet hat, eine Art Akte angelegt. »Mal sehen«, sagt er, »in Deutsch schriftlich eine Eins, sehr gut, aber mündlich war die Mitarbeit etwas zurückhaltend. Du kommst insgesamt trotzdem auf eine Eins minus. In Mathe hast du dich im zweiten Halbjahr deutlich verbessert, eine solide Drei, das ist doch schön.« So geht das weiter. Herr Sontheimer ist der Lehrer geblieben, der er war. Und ich der Schüler. Ich fühle mich genötigt, mich zu rechtfertigen, ganz so, als wäre an den Noten, die die Welt von Herrn Sontheimer strukturieren, noch etwas zu ändern: »Dass ich im Unterricht nicht so viel gesagt habe, lag nicht daran, dass ich nicht interessiert war …« »Ich weiß«, sagt Herr Sontheimer, »es darf ja auch laute und leise Schüler geben. Insgesamt ist das ein gutes Zeugnis.«
    Herr Sontheimer geht alle Namen der Klasse durch. Er sieht die Zensuren, dann sieht er die Person vor sich. Zu Ahmed sagt er: »Ein ungezügelter Junge, kreativ, aber vorlaut, nicht sehr fleißig. Was er wohl heute macht?« Ich sage Herrn Sontheimer, dass ich das nicht genau sagen kann. »Oberster Verfassungsrichter wird er schon nicht sein«, sagt Herr Sontheimer.
    »Du bist der erste Schüler aus eurer Klasse, der sich bei mir gemeldet hat«, sagt Herr Sontheimer, »das ist schade. Ich meine mich auch zu erinnern, dass wir damals gar keine Abschiedsfeier veranstaltet haben, das hat mich gewundert. Woran lag denn das?« Es lag daran, dass Schüler und Lehrer Herrn Sontheimer für einen schlechten Pädagogen hielten. Und dass statt Herrn Sontheimer Frau Schach zu einem Grillabend eingeladen wurde. »Die Stimmung war etwas aufgeheizt«, sage ich, »viele waren mit den Oberschulempfehlungen, die Sie vergeben haben, nicht einverstanden.« Die starre Beamtenmiene von Herrn Sontheimer entgleitet für einen kurzen Moment, als sei er in seinem Berufsethos getroffen worden. »Ja, das kommt mir bekannt vor«, sagt er dann schon wieder geschäftsmäßig, »alle Eltern glauben natürlich immer zu wissen, dass ihr Kind auf ein Gymnasium gehört. Heutzutage höre ich sogar oft von Eltern nichtdeutscher Herkunft, dass ihr Kind unbedingt etwas erreichen soll. Diese Eltern wollen, dass ihr Kind Abitur macht, aber zuhause wird den Kindern dafür nichts mitgegeben, es gibt keine Bücher, keine

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