Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
»letztes Jahr hatte ick einen Kollegen, mit dem bin ick jeden Abend nach der Arbeit richtig picheln gegangen. Einfach nur picheln und quatschen. Ick weiß nicht, wo der jetzt ist!«
Ich könnte sagen: Wir beide können doch bald mal wieder was trinken gehen, Sven. Es wäre gelogen. Wir werden nie wieder zusammen losziehen. Es ist anstrengend, für uns beide. Sven muss sich rechtfertigen. Dafür, dass er noch zuhause wohnt. Dafür, dass die Schultis nur so mittelkalt waren. Dafür, dass er bald dreißig ist und nicht mal in der Nähe eines Ziels. Dafür, dass es ihm trotzdem gutgeht. Und ich muss mich auch rechtfertigen, glaube ich zumindest. Dafür, dass ich die Probleme, die Sven hat, nicht habe. Dafür, dass ich die Probleme, die ich habe, für Probleme halte, obwohl sie das nicht sind, verglichen mit Svens Problemen. Dafür, dass ich aussehe wie ein Biodepp. Schon damals, als ich zur Englischnachhilfe kam, wusste ich, dass ich bei Sven nichts zu suchen habe. Und Sven wusste, dass es eh nichts bringt. Schon damals hatte ich ein schlechtes Gewissen. Weil es mir besser ging und weil ich nicht helfen konnte. Weil wir Sven ignoriert haben und weil ich mir wünschte, nicht bei ihm zu sein.
»Meine Stiefmutter konnte sich an dich erinnern«, sagt Sven, »sie hat gesagt, du seist doch der Junge, der versucht hat, mich zu nem Genie zu machen. Hat heute wohl wieder nicht geklappt!« Ich sage Sven, dass man kein Genie sein muss, um durchs Leben zu kommen, »es wird schon«, sage ich. »Klar«, sagt Sven, »muss ja. Mein Vater sagt immer, früher wäre für Leute wie mich noch Platz gewesen in der Welt. Es hätte Arbeit gegeben. Heute musst du ein Genie sein, um Arbeit zu haben, dit meine ich.« Ich sage: »Ich bin auch kein Genie. Ich kenne keine Genies.« Sven sagt: »Kommt auf die Perspektive an. Für mich warste ein verdammtes Genie damals. Ihr alle wart Genies für mich. Sogar Ahmed war ein Genie, in Mathe und Fußball, verglichen mit mir.«
An Ahmed erinnert sich Sven, dem sonst keine Namen mehr einfallen. »Leider habe ick den nicht vergessen«, sagt er, »den habe ick auf der Realschule wiedergetroffen. Der hat mich verfolgt. Er und sein kranker Bruder. Die kamen sich vor wie die Größten. Wollten mich lächerlich machen vor der ganzen neuen Klasse. Ick musste mich oft wehren gegen die Knalltüte!« Sven, der die Türken hasst wie die Bioläden, hatte am längsten mit Ahmed und Abdul zu tun. Sven war in unserer Klasse außen vor. In den Außenseiterschulen, die er danach besuchte, wurde es noch schlimmer.
Wenn man so will, hatte Sven immer schon ein Integrationsproblem.
10.
Ach, Ahmed
Am Tag, an dem ich Ahmed endlich wiedersehe, erfahre ich von meiner Freundin, dass sie schwanger ist. Beides kommt überraschend.
Meine Freundin ruft mich morgens an, als der Frauenarzt ihr gerade den Grund für ihre anhaltende Übelkeit genannt hat. Einen 17 Millimeter großen Fleck Leben. Wir sagen beide nicht viel. »Das ist ja toll«, sage ich. »Finde ich auch«, sagt sie. »Aber auch verrückt«, sage ich. »Ja«, sagt sie, »bis heute Abend!« »Bis später«, sage ich und ahne, dass gerade eine neue Zeitrechnung begonnen hat.
Am Nachmittag, auf dem Heimweg, stelle ich mich in die Warteschlange beim Bäcker in der Nähe unserer Wohnung. Die breiten Schultern des Mannes vor mir lassen sein weißes Hemd spannen. Als er an der Reihe ist, seine Bestellung abzugeben, erkenne ich Ahmeds Stimme: »Ein Stück von diesem geilen Erdbeerkuchen!«
»Klingt lecker«, sage ich.
Ahmed dreht sich um. »Boah, Alter, bist du ein Stalker, oder was?« Er fängt schon wieder an zu erklären, dass er gleich weiter muss, aber dass wir uns verabreden sollten. Doch er kommt um den Kaffee diesmal nicht herum. »Na gut, ich habe ein bisschen Zeit«, sagt er, »und hey, es tut mir leid, dass ich mich noch nicht gemeldet habe, es ist einfach immer was zu tun. Ich hätte dich bald angerufen, wirklich, Ehrenwort.« Aber Ahmed muss darüber selbst lachen. »Bald«, sagt er, »heißt auf Türkisch etwas anderes als auf Deutsch, das weißt du doch!«
Ahmed sieht anders aus als vor vielen Wochen im Park. Das gebügelte weiße Hemd ist in eine Anzugshose gesteckt, die Turnschuhe hat er gegen Lederslipper getauscht. »Ich komme von einem Geschäftstermin«, sagt er. Es muss sich um ein anderes Geschäft handeln als das im Park. Oder Ahmed ist in der Hierarchie des Parks aufgestiegen.
Ich habe in den letzten Wochen viele Fragen gehabt, die ich Ahmed
Weitere Kostenlose Bücher