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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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sich hier so aufführen. Wenn er Ärger mache, sagte der Chef, werde er sich bei der Arbeitsagentur beschweren und Sven könne ab morgen zuhause bleiben. Also schweigt Sven. Es war sein letzter, kleiner Versuch, aufzufallen.
    Wie alle, die es schwer hatten, sagt Sven, er erinnere sich so gut wie gar nicht an die Grundschulzeit. Ging es ihm gut? »Hmmja, war allet okay, denke ich.« Wurde er nicht oft gehänselt? »Ach, ist mir wirklich egal, wat die anderen sagen, war schon immer so.« Was für ein Schüler war er? »Ein ruhiger, nehme ick an. Ick habe ja extreme Sehprobleme seit meiner Kindheit«, sagt Sven und kneift seine Augen zusammen, »lesen und rechnen und schreiben ist mir schwergefallen. Nur gemalt habe ich gerne.« Für die einzige Ausgabe unserer Klassenzeitung zeichnete Sven einen Comic. Ein kleiner Elefant und seine Elefantenmutter wollen schlafen, doch der kleine Elefant hat Angst. Er sagt seiner Mutter, er habe gerade einen rennenden Stein gesehen. Die Mutter glaubt ihm nicht. Später stellt sich heraus, dass der rennende Stein eine Maus ist – plötzlich hat die Mutter Angst, der kleine Elefant dagegen schläft beruhigt ein. Die Zeichnungen waren einfach, steckten aber voller Ideen und Details.
    Sven kam auf eine Hauptschule, an die er sich ebenfalls kaum erinnert. Er stand meist allein auf dem Schulhof. Nachmittags fuhr er mit dem Fahrrad nach Hause, manchmal nahm er den Ball mit und drosch ihn nach der Schule gegen eine Wand. In seiner Klasse war Sven der Einzige, der jeden Tag zur Schule kam. Es war eigentlich keine feste Klasse, sondern eher ein loser Verbund aus jungen Menschen, die keinen Bock hatten zur Schule zu gehen. Sven war einer von zwei Deutschen in der Klasse. Die Mitschüler rauchten manchmal im Klassenzimmer, zur großen Pause rückte auch mal ein Mannschaftswagen der Polizei an. Sven wechselte auf eine Realschule, er bat den Vater ihm beim Schulwechsel zu helfen, Sven machte mit Ach und Krach seinen Abschluss. »Ne Vier, das war immer meine Note«, sagt Sven, »reicht ja!«
    Sven durfte zwar nie ein Haustier besitzen, aber er mochte die Tiere im Zoo, zu dem er mit dem Fahrrad oft fuhr. Er wollte eine Ausbildung zum Tierpfleger machen. Der Vater, der mit Büromöbeln handelt und die Stiefmutter, die in einer Kneipe arbeitet, sagten ihm, er solle erst mal ein bisschen Geld verdienen. Sven half auf dem Bau aus. Als er ein Jahr später im Zoo anrief, sagten »die« ihm, dass er nun zu alt für eine Ausbildung sei. Sven war zweimal sitzen geblieben und ein Jahr später eingeschult worden als geplant. Ein Jahr zuvor hätten »die« ihn im Zoo genommen, sagten »die«. »Da hatte ick Pech«, sagt Sven, dem nie jemand zugehört hatte, wenn er sagte, dass er gerne mit Tieren arbeiten würde, und dem nie jemand geraten hatte, sich gleich nach der Schule im Zoo zu erkundigen. Danach erledigte Sven wieder diverse Jobs. Der Vater sagte Sven, er solle froh sein, wenn ihn jemand bezahlt. Die Lehrer hatten ihm immer gesagt, er solle froh sein, wenn er nicht noch mal sitzen bleibt. Der Sachbearbeiter der Arbeitsagentur sagte, er solle froh sein, dass man in Deutschland weich falle. Nie fragte jemand, ob Sven vielleicht etwas vorhat mit seinem Leben. Und Sven hatte gelernt, nur zu reden, wenn er gefragt wird. »Dit mit den Tieren war ein Traum von mir«, sagt Sven und schiebt gleich hinterher: »Aber Träume sind sinnlos, schau dich um, bringt ja nichts.« Sven hatte noch einen zweiten Traum. Er war schon ein paar Jahre zwischen Mini-Jobs und Arbeitsagentur gependelt, da versuchte er, doch mal auszubrechen. Sven sagt, er interessiere sich für alle Gebäude, alte und neue, und er zeichne gerne. Architekt, das wäre doch ein Beruf. »Na logisch«, sagte der Vater damals, »und ick werde Bundespräsident.« Sven meldete sich aus eigenen Stücken an einem Oberstufenzentrum an, er wollte sein Abitur nachmachen. Doch er überstand das Probehalbjahr nicht. Natürlich hatte er wieder Schwierigkeiten, in Mathe, in Deutsch, in Geschichte. Und natürlich hat sich wieder kein Lehrer dafür interessiert, natürlich hat niemand ihm Nachhilfe angeboten – mein verkorkster Versuch war die einzige Nachhilfe-Stunde, die Sven je bekommen hat – und natürlich hat Sven nicht gefragt. Sven blieb wieder mal sitzen und radelte nach Hause. Wahrscheinlich hätte es niemals fürs Abitur gereicht. Wahrscheinlich wäre Sven nie an der Universität angenommen worden. Und Herr Sontheimer hat Recht: Es muss nicht jeder Abitur

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