Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
machen. Aber sollte nicht jeder eine Chance bekommen, wenn er um diese Chance bittet, wenn er offenbar den Willen hat, noch mehr zu lernen, mehr zu erreichen? Sven wollte unbedingt wieder zur Schule. Das war nicht zu erwarten. Sven ist einer dieser Schüler aus der »bildungsfernen Schicht«, wie das im Pädagogendeutsch heißt. Immerzu ist davon die Rede, man erreiche diese Leute nicht. Sven jedoch stand plötzlich wieder vor der Tür einer Bildungseinrichtung. Man könnte erwarten, dass so ein überraschender Gast mit offenen Armen empfangen wird. Aber das Erste und Letzte, was Sven vom neuen Schulleiter zu hören bekam, war: »Na, da wollen wir doch mal sehen. Leicht wird das nicht für Sie!« Als hätte es Sven je leicht gehabt.
Sven ist nie gereist. »Einmal war ick in Köln jewesen, war nicht so meins.« Der Vater und seine neue Frau haben einen Wohnwagen am See, draußen, in »JWD«, wie Sven sagt: janz weit draußen. Jedes zweite Wochenende fährt er dort hin. An den anderen Wochenenden besucht er seine Mutter, die in einer kleinen Dachgeschosswohnung wohnt und mehr trinkt, als sie bezahlen kann. Die Mutter kann nicht mehr arbeiten. Sie hat die Familie früh für den Alkohol verlassen, Sven nimmt ihr das nicht übel, »man kann da nüscht machen«, sagt er, »ick kann ihr dit nicht verbieten.« Der neue Freund der Mutter ist letztes Jahr gestorben, er stürzte besoffen eine Treppe hinunter. »Wat soll man machen«, sagt Sven. Er verbringt viel Zeit mit seiner Stiefschwester, sie ist jetzt zehn Jahre alt, sie macht sich gut in der Schule. »Sie vergöttert mich«, sagt Sven, »ist mir immer schon nachgelaufen, weiß der Teufel, warum.« Muss ein ungewohntes Gefühl sein für ihn. Sven strahlt und bestellt noch zwei Schultis.
Zwei »jute Kumpels« hatte Sven, beide aufm Bau kennen gelernt. Der eine ist jetzt mit einer Russin verheiratet, die er in einem Erotik chat kennen gelernt hat. »Die macht ihn fertig«, schnauft Sven, »bummst wahrscheinlich wie ne Granate, aber hält ihn an der kurzen Leine.« Den Kumpel hat er schon lange nicht mehr gesehen. »Weiber halt«, sagt Sven. Der andere Kumpel ist nach Frankfurt gezogen, am Main oder an der Oder, Sven weiß es nicht so genau, zu weit, um mit dem Fahrrad hinzufahren. Der Kumpel hat da einen Job als Lagerist gefunden. »Arbeit und Weiber, beides Gift für Freundschaften«, sagt Sven, der beides nie hatte, Weiber nicht mal für eine kurze Zeit. Es gibt keine Maßnahme, um Weiber kennen zu lernen. »Im Puff oder im Internet lernste ja nicht die Richtige kennen«, sagt Sven, »hat aber Zeit, eins nachm anderen, wat soll ick jetze mit ner Frau, erstmal gucken, was passiert.« In wenigen Tagen läuft die Maßnahme aus. Hat er mal nachgefragt beim Sachbearbeiter, ob es nun weitergeht für ihn oder nicht? »Nee«, sagt Sven, »die haben sich noch nicht gemeldet.« Mal sehen, was »die« nun mit ihm vorhaben. Sven hat nichts mehr vor.
»Weil du vorhin gefragt hast«, sagt Sven, als Berta gerade ankündigt, dass die beiden Schultis, die sie uns hinknallt, die letzten für heute sind, weil die Markthalle schließt, »also, weil du gefragt hast, wat so schöne Erinnerungen sind aus den letzten zwanzig Jahren: Ick erinnere mich zum Beispiel an meinen achtzehnten Geburtstag. Damals war ick mit Vater noch in einem Kegelverein. Der Kegelverein wurde kurz danach aufgelöst, weil die nie gezahlt haben und die immer dachten, dass wir uns um alles kümmern. Na ja, aber an meinem Achtzehnten, da wollten die alten Herren noch zusammen eine Feier für mich schmeißen. Ick hatte schon so ne Ahnung, ick hatte gehofft, dass Vater mir dieses Geschenk macht, nur so richtig dran geglaubt habe ick nicht. Aber dann kam wirklich eine Stripperin! Für ne ganze Stunde! War geil gewesen. Das war mal ne positive Überraschung! Vielleicht gibt’s das zum Dreißigsten bald auch.«
Berta schreit: »So, die Herren, Feierabend!«
Wir taumeln aus der Markthalle. Erst Cem, jetzt Sven: Mit den Problemschülern wird getrunken. Was wünschst du dir von der Zukunft, Sven, frage ich. »Einen Job«, schnauft Sven, »mehr nicht!« Keine Wohnung? »Erst den Job, dann die Wohnung. Aber ick fühle mich wohl zuhause, ick brauche nicht viel Platz, ick verstehe mich gut mit Vater. Nee, dit Wichtigste ist jetzt ein Job, damit ick nicht sinnlos durch die Gegend fahre mit meinem Fahrrad. Einfach nur ein Job!«
»Und es wäre schön, öfter mal wieder was trinken zu gehen, so wie heute Abend«, sagt Sven,
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