Ambient 02 - Heidern
E IN S
Eines Morgens, während ich zur Arbeit ging, hätte mich ein Säugling fast erschlagen. Weil ich im gefährlichsten Augenblick unters Dach eines Bushaltestellenhäuschens trat, kam ich noch einmal mit dem Leben davon und kann das weitere erzählen. Umringt von Fremden, besah ich mir die Überreste. Gelächter vom Himmel lenkte unsere Blicke in die Höhe. Die Mutter des Säuglings senkte die Arme und lehnte sich aus dem Fenster. Ohne zu applaudieren, zerstreute sich ihr Publikum, um in dieser Stadt Gottes Krumen aus den Gossen zu klauben. An der übriggebliebenen Glasscheibe des Häuschens klebten fotokopierte Zettel, und auf dem größten stand:
Möchte gekreuzigt werden. Nägel vorhanden.
Bitte Nachricht auf Anrufbeantworter.
Die Streifen mit der Telefonnummer am unteren Rand des Blatts fehlten alle. Unter meinen Schuhen knirschte Glas; der Rock klebte an meinen Beinen, während ich die Straße entlangstrebte. In der 18°-Feuchtigkeit des Novembermorgens verlor mein Haar die Fasson. Droben die Mutter wirkte, als stünde sie davor, eine eigene Darbietung nachzuschieben; wie die anderen Passanten suchte auch ich allein das Weite.
»Joanna«, sagte Thatcher, zerriß damit die Knäuel meiner Erinnerungen, erleichterte mir die Rückkehr in die Gegenwart. »Willst du vielleicht so ein Gesicht kriegen, wie du's jetzt schneidest?« Thatcher Dryden, gemeinsam mit seiner Frau Susie Inhaber der Dryden Corporation – kurz Dryco genannt –, war mein Chef; im konzeptualistischen Sinne mein Herr. Als mit der Leitung der Abteilung Neue Projekte beauftragte Subdirektorin hörte ich bei den morgendlichen Besprechungen kaum zu; im Laufe der drei Monate seit meiner Beförderung hatte ich noch kein neues Projekt bearbeiten müssen. »Ich möchte, daß du dir morgen mal was vornimmst. Mal überprüfen, was da dran ist.«
»Wo dran?« fragte ich. Thatchers Augen nahmen einen glasigen Ausdruck an, als ob er sich mich in einem der spezialdesignerten Kostüme vorstellte, die ihm gefielen, die ich mich jedoch zu tragen weigerte.
»Mir liegen ein paar Berichte über einen Burschen in der Unteren Oststadt vor …«
»Unteraffenkaff«, sagte Bernard. »Aus Rücksicht aufs Image sollten wir so tun, als ob wir uns mit den Bezeichnungen auskennen.« Als Direktor der Abteilung Außendienst sorgte Bernard dafür, daß seine Bossfamilie, wenn sie abends ein Los auf den Nachttisch legte, am Morgen einen Hauptgewinn vorfand. Außerdem betätigte auch er sich in der Abteilung Neue Projekte. Ehe ich zur Dryco ging, hatte ich für Bernard gearbeitet, dank seiner Nachhilfe die Fähigkeiten gelernt, die ich nicht länger brauchte.
»Ist mir schietegal, wie man's diese Woche grad wieder nennt«, meinte Thatcher. »Schildern Sie ihr die Hintergründe, soweit wir sie kennen, Bernard.«
Bernard war fünfundvierzig, drei Jahre älter als ich; er hielt seinen Computerausdruck so, daß er ihn über den Rand der Bifokalbrille hinweg sehen konnte, und las laut ab, übertrug den Jargon, in dem man zu Verschleierungszwecken sämtlichen Papierkram verfaßte, in verständliche Worte. »Ein gewisser Lester Hill Macaffrey aus Kentucky, Alter neunundzwanzig, gegenwärtige Anschrift unbekannt …«
»Bestimmt auf Trebe«, meinte Thatcher. »Wir holen ihn uns wie 'ne Ratte aus 'm Loch, wenn's sein muß. Ein Südstaatler, wie Sie sicher gemerkt haben.« Er machte immer gern auf seinen heimatlichen Menschenschlag aufmerksam.
»Ratten findet man in jedem Loch«, sagte Susie Dryden leise, die wie stets am anderen Ende des Tischs saß und die Daily News las; ihre Augen huschten über die Seiten, suchten Aufschlußreiches, forschten in banalen Meldungen nach auswertbaren Zusammenhängen der Art, die Vorgänge, die scheinbar nichts verbindet, miteinander verknüpfen. Sie erinnerte mich an einen Falken, der eine Wiese nach Mäusen abspäht. Die Schlagzeile der Zeitung lautete: IHR PROBLEM? – ICH BIN KANNIBALE, SAGTE ER. Die Hand ließ er in der Tasche.
»Er unterrichtet Philosophie und Theologie in einer von Eltern unterhaltenen Einrichtung auf der Neunten Straße«, erklärte Bernard. »Die Mehrzahl seiner Schüler sind Versetzte von Long Island, darunter auch Testgruppenkinder …« Susie verzog das Gesicht.
»Macaffrey lehrt Grundschüler Philosophie?« vergewisserte ich mich.
»Nichts Eschatologischeres als Nietzsche, soviel mir zugetragen worden ist«, antwortete Bernard. »Unsere Freunde bei den einschlägigen Behörden haben die
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