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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Muehl
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feindlichen Strukturen versuchen wir einen sicheren, stabilen Hafen zu etablieren, in dem man sich aufeinander verlassen kann und in dem all die Dinge geschehen, die wir sonst vermissen, ohne dass wir allerdings unseren Optimierungswillen aufgeben. Die Familie soll dieser Hafen sein. Aber die Familie steht für alles Unzeitgemäße: Stabilität, Bedingungslosigkeit, Loyalität, Verzicht, Nähe. Sie ist die letzte Bastion, auf die sich der Ökonomisierungsgedanke nicht übertragen lässt. Sie ist ein träges System, das sich der Modernisierung widersetzt. Die Totalanforderung spitzt sich in der Familie zu. Hartmut Rosa glaubt nicht, dass die Menschen von den falschen Werten geleitet würden. »Man kann nicht auf der einen Seite das Wachstum und die Flexibilität vorantreiben undden Menschen dann vorwerfen, dass sie nach diesen Maximen ihre Familienverhältnisse gestalten.«
    Ist die Familie, sind wir am Ende also Opfer der selbstauferlegten ökonomischen Regeln? Sind die Strukturen, aus denen wir uns nicht befreien können, schuld an unserer Unverbindlichkeitshaltung? Und ist Widerstand zwecklos, weil die Struktur immer über den Einzelnen siegt?
    Das hieße, die Waffen zu strecken. Es wäre der bequemste Weg. Jedes Scheitern ließe sich auf die Strukturen schieben, alle wären Gefangene von Rahmenbedingungen, und niemand wäre mehr allein verantwortlich. Wir könnten weiterhin ohne mulmiges Gefühl unsere Unverbindlichkeitshaltung pflegen und behaupten, dass eben auch die Liebe ein Deal sei und wir gezwungen wären, auf dem Partnermarkt das bestmögliche Geschäft abzuschließen, jemanden zu finden, dessen Status, Verdienst, Aussehen und Intelligenz der Liga, in der wir selbst spielen, möglichst nahe kommt.
    Das Prinzip der Marktwirtschaft, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, bestimmt mittlerweile tatsächlich viel zu sehr, wen wir lieben und wie wir es tun. Die Soziologen Randall Collins und Scott Coltrane betrachten die Liebe deshalb unter tauschtheoretischer Perspektive. Dass wir ständig weiterziehen und unsere Partner auswechseln, hat ihrer Ansicht nach nichts mit eingefrorenen Gefühlen zu tun. Es entspricht der Logik des Marktgeschehens, das sich durch fallende und steigende Kurse auszeichnet. Wir verhalten uns, wie es unserer Natur entspricht:nutzenmaximierend. Die Bezeichnung dafür lautet »Theorie der rationalen Entscheidung«.
    Collins und Coltrane empfehlen, die Abweichungen bei der Wahl des Partners in die eine wie in die andere Richtung gering zu halten. Sie sind überzeugt, dass das die Wahrscheinlichkeit einer stabilen Liebesbeziehung erhöht. Menschen, bei denen der eine deutlich unattraktiver oder schlauer ist als der andere, sollten voneinander lassen.
    Da wir auf keinen Fall mehr investieren wollen, als wir als Rendite zurückerwarten, berechnen wir die Liebe und geben ständig Acht, sie wie den Bootskiel eines Segelschiffs auszutarieren. Tut mir der andere gut? Macht er mich glücklich? Unterstützt er mich? Hilft er mir, mich selbst zu finden? Zahlt er sich aus?
    Erich Fromm hat darauf hingewiesen, dass einer der signifikantesten Ausdrücke im Zusammenhang mit Liebe und Ehe die Idee des »Teams« ist. Innerhalb dieser Definition hat Ergriffenheit keinen Platz. Ergriffenheit klingt nach Kitsch und begegnet einem, wenn überhaupt, nur noch in Romanen und Filmen.
    Es ist töricht, sich wie ein liebeskranker Jugendlicher in die Ungewissheit zu stürzen, sich auszuliefern und verwundbar zu machen. Pathologisch nennen wir eine solche Liebe. Gegen den Schmerz, der Marcelle Sauvageot widerfuhr, einer jungen Französin, die im Sanatorium von Davos lungenkrank den Tod erwartete und einen Abschiedsbrief ihres Geliebten mit den Worten erhielt: »Ich heirate (…) Unsere Freundschaft bleibt (…)«, sichern wiruns ab. Einerseits. Andererseits zieht uns diese unbedingte Liebe an, das tiefe Empfinden, das sich hinter den harten Worten in Sauvageots schmalem Buch Fast ganz die Deine verbirgt. Das Buch erschien 1933 in Frankreich unter dem schlichten Titel Laissez-moi (Commentaire).
    Wenn es darauf ankommt, unterdrücken wir vorsichtshalber unsere Sehnsucht, lieben auf Distanz und verwalten unsere Gefühle wie ein Geschäftsessen mit dem Blackberry. Nie zuvor stiegen so viele Menschen freitagnachmittags und montagmorgens in den Zug und reisten durchs Land, freiwillig oder unfreiwillig. Dieses Spiel von Nähe und Ferne folgt der Logik unseres Systems. Am Ende lohnt es sich vielleicht nicht, jemandem

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