Die Patchwork-Luege
akzeptiert hat. Wenn man schon Kinder in eine kapitalistische Welt setzt, sollen sie sich offenbar auch an ihre Gesetze der Akkumulation und Unbeständigkeit gewöhnen.
Die Familie, das Fundament, spielt in dieser Gesellschaft eine Statistenrolle. Politik und Wirtschaft treiben ihren Auflösungsprozess zusätzlich voran, indem sie die klassische Familie dem Niedergang ausliefern. Deren Zeit scheint abgelaufen. Ihr Untergang wurde schon häufig prognostiziert, mit dem Unterschied, dass es dieses Mal ganz leise, aber dafür umso wirkungsvoller geschieht. Damit nicht gleich auffällt, dass auch der Staat die Familie abgeschrieben hat, breitet sich ein Netz der Folgenverarbeitungsindustrie aus. So wie wir uns darauf einstellen müssen, dass die Ölvorkommen zur Neige gehen und alternative Energien die Zukunft sind, haben wir uns darauf eingestellt, dass die klassische Familie einen Anachronismus in unserer flexibilisierten Welt darstellt. Jugendämter, Beratungsstellen, Scheidungsanwälte, Mediatoren, Umgangsbegleiter, Psychologen, Psychiater, Pädagogen, die Ratgeberliteratur und die Pharmaindustrie sollen die Zerrüttungsfolgen auffangen. Das können sie aber nicht. Am härtesten trifft es die Pädagogen. Sie werden mit Aufgaben konfrontiert, für die sie weder ausgebildet worden sind noch Zeit haben. Sie sind Lehrer, Tröster, Berater, Ersatzbezugspersonin einem. Ihren Schülern bringen sie das ABC bei, wie man Zahlen addiert, subtrahiert, multipliziert, welches Essen gesund ist und wovon sie die Finger lassen sollten. Manche Lehrer putzen mit ihren Schülern vor der ersten Stunde die Zähne. In Weiterbildungskursen wird ihnen geraten, darauf zu achten, ob einzelne Schüler Verhaltensstörungen aufweisen wie Ungeschicklichkeit, Unkonzentriertheit und dauernde Unruhe. Falls ja, sind sie möglicherweise an ADHS oder ADS erkrankt. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität, ADS für Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität. Die Warnungen davor, gesunden Kindern einen Krankheitsstempel aufzudrücken, die Pädagogik zu psychiatrisieren und Schüler nicht länger als Schüler, sondern als Patienten zu sehen, werden lauter.
In Deutschland leiden etwa 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter ADHS. »Bei den Dreizehn- bis Neunzehnjährigen stieg die Rate der ADHS-Diagnosen zwischen 2003 und 2006 um 70 Prozent«, sagt Tobias Banaschewski, Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Mannheim. Die Zahl derer, die in den vergangenen Jahren mit dem Psychostimulanzium Ritalin ihre Konzentration, ihre motorische Steuerung und Impulskontrolle verbesserten, hat drastisch zugenommen: 1993 wurden 34 Kilogramm Ritalin geschluckt, heute sind es 1735.
Bund, Länder und Gemeinden geben immer mehr Geld für die Kinder- und Jugendhilfe aus, etwa 27 Milliarden Euro waren es 2009, knapp 10 Prozent mehr als im Jahrzuvor und sogar 50 Prozent mehr als 2000. Das Wissenschaftsmagazin Nature hat die Jahre 2010 bis 2020 zur »Dekade der psychiatrischen Erkrankungen« ausgerufen. In einem Aufsatz schreibt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Mannheim: »Im Zeitraum von einem Jahr hat jeder Vierte eine behandlungsbedürftige, psychische Störung. Während viele körperliche Erkrankungen sich wesentlich erst am Lebensende auswirken, treffen psychische Störungen oft Menschen in den aktiven Phasen des Lebens, in der Ausbildung und im Erwerbsleben.« Eine kranke Psyche ist die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Dadurch entsteht ein gewaltiger finanzieller Schaden. Insgesamt erzeugen psychische Störungen »eine nahezu ebenso große Krankheitslast (44 Prozent) wie alle körperlichen Erkrankungen zusammen.« Die volkswirtschaftlichen Kosten betragen bis zu 22 Milliarden jedes Jahr, ein Anstieg von mehr als 30 Prozent im Vergleich zu vor sechs Jahren. Blickt man in die Zukunft, wird einem schwindlig.
Kinder leiden nicht nur vermehrt unter ADHS, auch Essstörungen, Schizophrenie, aggressive Verhaltensauffälligkeiten, Autismus und Depressionen werden immer öfter diagnostiziert. »Seelische Erkrankungen gehören damit zu den häufigsten Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen, mit erheblichen negativen langfristigen Konsequenzen für die Betroffenen und hohen Folgekosten für die Gesellschaft«, sagt Tobias Banaschewski. Und: »In den nächsten zehn Jahren ist international mit einer
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