Die Patchwork-Luege
Frühförderwahnsinn gepackt, takten Eltern den Tag ihrer Kinder, als gäbe es kein Morgen. In der Krabbelgruppe tritt der Nachwuchs dann, ohne es zu wissen, gegeneinander an. Warum robbt mein Kind noch auf dem Boden herum, während das der Freundin schon so flink krabbelt, obwohl es drei Wochen jünger ist? Und weshalb rollt meins das R nicht? Und stellt sich beim Klötzchenbauen so dumm an? Ein spöttisches: »Du musst Geduld haben, das kommt schon noch« macht aus der Freundin eine Feindin. Den knallharten Wettbewerb unter Müttern nennen die Amerikaner Mommy Wars . Caryl Rivers bezeichnet die Mommy Wars als die intelligente Version von»Schlanke Beine in 30 Tagen«. Verbittert bekämpfen sich Mütter auch im Internet, zum Beispiel im Diskussionsforum Urban Baby , gegründet von der New Yorkerin Leigh Goldman Balber. Gelegentlich vergessen sie dabei ihre Manieren. Gereizt fragt etwa eine Mutter, ob sie, nur weil sie ein Kindermädchen, eine Hausdame, einen Koch und einen Fahrer beschäftige, eine schlechte, geldgeile Mutter sei, oder ob die abfälligen Kommentare nicht vielmehr zeigten, wie eifersüchtig andere Mütter auf ihr Leben seien? »Ich bin nicht eifersüchtig«, lautet eine Antwort, »ich glaube nur, du musst ziemlich inkompetent sein, wenn du deine täglichen Aufgaben nur mit so viel Hilfe geregelt kriegst.« Elternschaft ist ein Lebensstil.
Man darf Ayelet Waldman wohl glauben, wenn sie sagt: »Eine Frau, die Kinder hat, wird weniger grandios Karriere machen, als sie sich das früher einmal vorgestellt hat, weswegen die Erziehung dieser Kinder – schon zur Kompensation – erfolgreich sein muss.« Letztlich gehe es immer um die eine Frage: »Wer ist hier die gute Mutter?« Ganz gleich, welches Modell man lebt, ob als Hausfrau und Mutter, Alleinerziehende und Berufstätige oder als Patchworker, es wird aggressiv verteidigt. Solange man seine Kinder mit Bildung und Erziehung überhäufen lässt, ist alles in bester Ordnung, egal, wie es sonst zu Hause stehen mag. Hauptsache, das Kind verpasst nicht den Anschluss und bleibt wettbewerbsfähig. Familiäre Bindungen sind zweitrangig.
Nach diesen Kriterien muss im Scheidungsfall keine Mutter und kein Vater den Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen haben. Falls einer der beiden es doch habensollte, beruhigen ihn unzählige Ratgeber. Mittlerweile suchen viele Eltern schon bei den kleinsten Problemen in Büchern nach Hilfe. Der Ratgebermarkt bietet ihnen eine Fülle von Titeln. Für jede Sorge verkauft der Handel das passende Buch: Familie geht auch anders: Wie Alleinerziehende, Scheidungskinder und Patchworkfamilien glücklich werden , Elternratgeber Zweisprachigkeit – Informationen & Tipps zur zweisprachigen Entwicklung und Erziehung von Kindern , Ermutigen statt kritisieren. Ein Elternratgeber nach Rudolf Dreikurs, Das Geheimnis glücklicher Kinder , Wenn Kinder zu viel wiegen: Ein Elternratgeber, Kinder spielerisch fördern. 0–3 Jahre. Der neue große Elternratgeber. Die beste Antwort auf Pisa. Säuglings- und Kleinkinderschwimmen: Ein Elternratgeber. Jedes Kind kann schlafen lernen.
»Ratgeber«, sagt Michael Winterhoff, »werden von Eltern gelesen, die in einer symbiotischen Beziehung leben, die ihr Kind optimieren wollen.« Für das Kind sei diese Vereinnahmung, die Verschmelzung mit seinen Eltern, äußerst gefährlich. Es verharre in der frühkindlich-narzisstischen Phase. Ein Kind braucht Hierarchien und Regeln. Gleichermaßen beunruhigend sei die Entwicklung, das Kind als Partner zu begreifen (»Wir nehmen unser Kind ernst«).
Ein Partner ist ein Mensch auf Augenhöhe. Mit einem Partner setzt man sich auseinander, findet gemeinsam Lösungen und lehnt sich an dessen Schulter, wenn über einem alles zusammenstürzt. Die Schultern von Kindern sind zu schmal, als dass sich Eltern daran anlehnen könnten. Wer sein Kind in die Partnerrolle zwingt, erwartetvon ihm im Falle von Schmerz, Trauer, einer Scheidung nichts anderes als die Vernunft eines Erwachsenen. Das setzt den Glauben voraus, es zur Rationalität erziehen, es seelisch abhärten zu können. Aber wer tröstet dann am Ende wen?
Der Erziehungswahnsinn geschieht unter dem Deckmantel, das Beste für sein Kind zu wollen. Aus diesem Grund sind Eltern bereit, viel Geld zu investieren, damit sich der Nachwuchs später im Wettbewerb erfolgreich behaupten kann. Auf diesen Mechanismus baut zum Beispiel auch die amerikanische Bildungskette FasTracKids (sechs Monate bis acht Jahre), die das
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