Die Patchwork-Luege
damit die Bildungschancen für Kinder aus allen sozialen Schichten steigen, protestierte das wütende Bürgertum. Es hatte Angst, dass seine Kinder mit Hartz-IV-Kindern lernen müssen und deshalb auf der Strecke bleiben. Großeltern, Eltern und Kinder zogen durch die Straßen der Innenstadt. Vom »Gucci-Protest« war die Rede. Auf den Plakaten der Kinder stand: »Wir sind keine Versuchskaninchen.« Der Platz für prekäre Verhältnisse ist anderswo, die richtige Ausbildung ist ein Distinktionsmerkmal. Die Sorge, das Kind könnte nicht als Premiumprodukt in den Markt entlassen werden und später an der mittleren Managementhürde scheitern, nimmt bizarre Züge an. Was homogen ist, muss homogen bleiben: das Umfeld, der Freundeskreis, die Schule. Inzwischen tritt der elterliche Egoismus ganz ungeniert zutage.
Das beste Buch für Eltern mit Perfektionsanspruch, die ihr Kind wie eine Maschine warten und für die Wirtschaftswelt fit machen, ist immer noch Jean Jacques Rousseaus 1762 erschienener Roman Emile oder Von der Erziehung . Dieses Buch erinnert uns daran, dass die Kindheit magisch ist, ein Lebensabschnitt, der in vollen Zügenausgekostet werden muss, im Spiel, im Umherschweifen von Gedanken und Gefühlen, in der Nähe zur Natur, die den Geist schärft. Das Kind ist Kind. Es darf, es soll nichts anderes sein, weder ein Projekt noch eine Projektionsfläche. »Menschen, seid menschlich; dies ist eure erste Pflicht! (…) Liebt die Kinder, fördert ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Naturtrieb! Wer von euch hat nicht zuweilen dieses Alter beneidet, wo das Lachen stets auf den Lippen und die Seele stets im Frieden ist? Warum wollt ihr diesen kleinen Unschuldigen den Genuß einer so kurzen Zeit, die ihnen entflieht, und eines so kostbaren Gutes, das sie nicht mißbrauchen können, nehmen?«
Fatalerweise haben wir die Zeit für Kindheitserfahrungen auf ein Minimum reduziert. Die Schonungslosigkeit von Beginn an fasste der Hessische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren, herausgegeben vom Sozial- und Kultusministerium, schon vor einiger Zeit in Worte. Er liest sich, als würden Kinder direkt in ein survival camp hineingeboren, dessen Prüfungen nur jene schadlos überstehen, die sich in kürzester Zeit bestimmte Tools aneignen. Der Raum für Schwäche, Durchschnittlichkeit, Verletzlichkeit schrumpft unaufhörlich. Die Elitenbildung baut auf Konkurrenzkampf.
Es ist vom Explorationsverhalten des Kindes die Rede, von Lernmotivation, Kompetenz, Meta-Kognition, Eigenverantwortung. Von ressourcenorientierten Ansätzen, neuronalen Netzwerken, von Autonomieerleben und Resilienzförderung.
Unter dem Stichwort Resilienz vermerkt der Bildungsplan: »Resilienz bezeichnet die Fähigkeiten des Kindes, seine personalen und seine sozialen Kompetenzen und Ressourcen erfolgreich zu nutzen, um schwierigen Lebensumständen zu trotzen und kritische Ereignisse und Risikobedingungen erfolgreich zu bewältigen.« Dies beinhalte die positive, gesunde Entwicklung trotz anhaltendem Risikostatus (z. B. ein niedriger sozioökonomischer Status oder eine elterliche psychische Erkrankung), die Fähigkeit, mit Belastungs- und akuten Stressbedingungen erfolgreich umzugehen, sich eigenständig Hilfe zu holen sowie die schnelle Erholung von traumatischen Erlebnissen. »Das Kind erwirbt die Fähigkeit, schwierige Situationen in seinem Leben nicht nur als Belastung, sondern auch als Herausforderung zu begreifen.«
Die Welt ist brutaler, der Wind rauher geworden, die Kindheit ist kein Schutzraum mehr, sie ist die erste, die wichtigste Stufe eines lebenslangen Optimierungsprozesses. Obwohl die Kindheitszeit, in der man seine Illusionen hütet, einen großen Zauber entfaltet, ist nichts dagegen einzuwenden, Kindern beizeiten die Vorstellung auszutreiben, die Welt sei ein wohliger Ort und hielte ganz selbstverständlich einen Platz für sie bereit. Sie müssen auch akzeptieren, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung ist und es nicht deshalb schneit, weil auf einer Wolke Frau Holle sitzt und ihre Betten ausschüttelt. Kinder müssen für eine Welt gewappnet sein, in der sie leichter unter die Räder kommen können, als sie ahnen. Besser, sie sehen der Realität frühzeitig ins Auge. Verstörend ist die Botschaftzwischen den Zeilen. Sie lautet: In dieser Welt ist nichts verbindlich.
Man bekommt den Eindruck, es gehe darum, die Kinder für eine Gesellschaft fitzumachen, deren Zerfall man bereits schulterzuckend
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