Die Patchwork-Luege
schlechte Idee, sich Kahns Darstellung genauer anzusehen und sie in Beziehung zur Familie zu setzen. Die Familie wäre dann in erster Linie eine Funktionseinheit mit geregelten Abläufen. Jedes Familienmitglied hätte eine bestimmte Bedeutung und damit eine klare Aufgabe zu erfüllen. Die Maschine wird zur gelungenen Konstruktion, die ihre Leistungsfähigkeit vollends ausschöpft, wenn alle Rädchen ineinandergreifen, was nicht ausschließt, dass sich die Funktionen mit der Zeit verändern, weil sich die Scharniere abnutzen und Gewichte neu verteilt werden müssen.
Die Maschine ist der Dynamik verpflichtet. Bricht ein Gelenk weg, greifen die Stützfunktionen und halten sie am Laufen, bis das fehlende Gelenk ersetzt wird. Ihre ursprüngliche Kraft hat die Maschine jedoch verloren.
Was stellt die Maschine her? Wofür ist die Familie da?
»Die Familie«, sagt der Soziologe Tilman Allert, »löst zwei zentrale gesellschaftliche Funktionen ein: die Konstitution personaler Autonomie und die Selbstreproduktion der Gesellschaft. Sie ist eine Institution des wechselseitigen Verzichts und der wechselseitigen Unterstellung ewiger Dauer.« Im Zentrum steht die Liebe. Die Liebe des Paares ist für Allert die Schlüsselkategorie. Sie ist der exemplarische Ort der Erfahrung der Nichtverfügbarkeit des Menschen. »In der Liebe erleben die Menschen das elementare, strukturell Belastende und zugleich Wunderbare: Der Andere ist nicht verfügbar. Wir erfahren Autonomie paradoxerweise durch die Anerkennung der Autonomie des anderen.« Das wiederholt und radikalisiert sich mit der Geburt eines Kindes. Elternschaft provoziert unsere Machbarkeitsvorstellungen. »Wir haben Angst vor der Nichtverfügbarkeit des Lebens.«
Familie bedeutet Nichtverfügbarkeit.
Gerade in den jetzigen Verfügbarkeitsverhältnissen wächst das Bedürfnis nach einer Kontinuitätsinsel, wo nichts zur Disposition steht. Vielleicht überkommen uns deshalb seit einiger Zeit wieder angenehme Gefühle, wenn der Begriff Heimat fällt, ohne dass es einem peinlich sein müsste. Das Enge, Verwinkelte, Düstere, das Biedere und die Vorstellung des Eingeschlossenseins hat er verloren.Man assoziiert mit ihm nicht mehr so sehr einen geographischen Ort, es geht um die innere Heimat.
Ihre Wiederentdeckung erlebte die Heimat nicht zufällig gemeinsam mit dem einst sehr populären, aber totgeglaubten Entfremdungsbegriff. Beide sind in einer globalisierten Welt untrennbar verbunden. Vom entfremdeten Individuum, das den Bezug zu sich und der Welt verloren hat, das versucht, an seine Umwelt anzudocken, aber ständig scheitert, sprechen heute nicht mehr nur Skeptiker der Spätmoderne. Als Rahel Jaeggi mit der Arbeit an ihrer Dissertation zur Entfremdungsproblematik begann, wurde sie vielleicht noch belächelt, als das Werk dann erschien und überall hoch gelobt wurde, lächelte niemand mehr. In ihrem Buch beleuchtet Rahel Jaeggi das Phänomen der »Entfremdung« neu und beschreibt es an vier Fällen. Einer dieser Fälle erzählt die Geschichte eines Mathematikers, der sein Leben radikal verändert. Anstatt weiterhin nachts umherzuziehen und sein Hungergefühl an irgendwelchen Tankstellen zu stillen, nimmt er eine feste Stelle an, heiratet, zieht mit seiner Frau, die ein Kind von ihm erwartet, aufs Land, wo die Mieten nicht horrend sind. Niemand hat ihn dazu gezwungen, er hat sich frei entschieden, scheinbar. Doch die geordneten Bahnen, in die er sein Dasein gelenkt hat, fühlen sich an, als seien sie nicht seine, als hätte er sich in sie verirrt und als hielten sie ihn nun mit aller Gewalt fest. Nach und nach kommt ihm das Gefühl für sich selbst abhanden.
Dem Entfremdeten hilft nicht der Rückzug ins einfacheLeben oder tätige Landlust. Um das einfache Leben in seiner Ursprünglichkeit geht es ja gar nicht. Er ist ein Verlorener, unfähig, Stolz auf seine Arbeit zu empfinden, sich hinzugeben in der Liebe, sich zugehörig zu fühlen zu etwas, zu jemandem, zu sich. Der Entfremdete hat den Eindruck, sagt Jaeggi, dass nicht er selbst es sei, der autonom sein Leben steuere.
Der entfremdete Mensch ist heimatlos. Die innere Heimat ist seine Sehnsuchtslandschaft. Im Augenblick der größten inneren Heimatlosigkeit wird die Heimat bedeutsam, was nichts mit Nostalgie zu tun hat, sondern mit einem zutiefst existentiellen Gefühl. Die Schwierigkeit besteht im Finden der Heimat, da man selbst, die Entwurzelung gewöhnt, gar nicht mehr weiß, wo man sie suchen soll.
Familie kann die
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