Die Patchwork-Luege
das Kind plötzlich einen Tag vorher, mal rief der Vater am Wochenende an, um mit dem Sohn über die Fußballergebnisse zu plaudern, und die Mutter ignorierte das Klingeln. Psychologen sprechen von maternal gatekeeping .
Vor zwei Jahren drehte Douglas Wolfsperger den umstrittenen Dokumentarfilm Der entsorgte Vater . Er porträtiert darin fünf nicht gerade sympathische Männer, die nach der Trennung von der Mutter ihr Kind weiterhin sehenwollen, aber nicht dürfen, weil ihnen die Expartnerin den Umgang verweigert. Einer dieser Väter ist Douglas Wolfsperger selbst. Er fühle sich wie auf einem Abstellgleis, fassungslos, sein Kind nicht sehen zu können. Die Mutter will die Vergangenheit, so weit sie kann, auslöschen, dazu gehört auch Wolfsperger. In einer Szene sagt er: »Ich habe ihr großen Schmerz zugefügt, aber warum verliert meine Tochter mich deshalb als Vater?« Jahrelang sieht er sie nicht. Eines Tages erhält er einen Brief von ihr: »Hallo Douglas. Ich mag Dich nicht. Ich will Dich nicht sehen. Ich will nichts mit Dir unternehmen. Ich will nicht, dass das Gericht mich dazu zwingt.«
Das neue Sorgerecht hat die Willkür beendet. Traurig ist, dass es so weit kommen musste.
Erich Fromm hat recht: Die Liebe muss erlernt werden. Vor der Übung steht das Studium, zum Beispiel das der Eltern als Liebespaar. Die Mutter und der Vater sind das erste Liebespaar im Leben eines Kindes, seine Projektionsfläche. Ihr Verhalten hat Vorbildcharakter. Kinder sehen, dass ihre Eltern einander küssen und sich streiten, anschweigen oder aus dem Weg gehen. Manchmal nehmen sie sich verstohlen in den Arm. Sie sehen im Idealfall, dass Mutter und Vater, wie heftig ihr Streit auch war und wie unversöhnlich die Lage schien, sich wieder versöhnen, ohne dass das Fundament beschädigt wurde. Das Wort Beziehungsarbeit erhält eine Bedeutung. Kinder intakter Familien verfolgen, wie zwei Menschen gemeinsam alt werden, das ganze Elend, das dazugehört, mit inbegriffen.
Sie wissen nicht nur, was Rituale sind, sie begreifeninstinktiv auch deren Wichtigkeit und schaffen in ihrem eigenen Leben neue.
Das können alle möglichen wiederkehrenden Dinge sein, das Vorlesen am Bett der Kinder, Ostereier suchen, aufs Land fahren.
Manche verreisen auch, in diesem Fall sind es Brüder: Sie fahren jedes Jahr an die Ostsee, immer im Winter, immer in denselben Ort, nach Ahrenshoop, eine Woche lang. Beide arbeiten, beide haben viel zu tun. Sie leben in verschiedenen Städten, der eine hat eine Familie, der andere keine. Diese eine Woche im Winter ist ihr fester Termin. Es fänden sich jedes Jahr Gründe, ihn abzusagen, zu verschieben, weil das Kind Fieber hat oder eine Dienstreise ansteht, beide könnten dann sagen: Im nächsten Jahr klappt es bestimmt. Aber das tun sie nicht.
Rituale geben Konstanz, das Gefühl von Beständigkeit, Verbundenheit und Sicherheit innerhalb einer Beziehung. Sie geben Halt im Fluss der Zeit. Sie ermöglichen es, zurückzukehren, an etwas Gemeinsames anzuknüpfen. So stabilisieren sie familiäre und soziale Netze. In Paolo Giordanos Buch Die Einsamkeit der Primzahlen band die Protagonistin Alice, als sie ein Kind war, ihrem Vater morgens die Krawatte, reichte sie ihm stolz, und er sagte »parfait«.
Unbewusst verstehen Nichtscheidungskinder, dass die Liebe der Eltern viel mit Arbeit und wenig mit Romantik zu tun hat und vermutlich genau deswegen funktioniert. Sie fragen sich zwar, wie der Vater die Launenhaftigkeit der Mutter erträgt und die Mutter die Sturheit des Vaters, ohne je eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten. Dasspielt aber auch gar keine Rolle. Sie sehen, dass es die Eltern miteinander aushalten, dass Liebe, dass eine Ehe überhaupt möglich ist.
1926 entstand Fritz Kahns plakatgroßes Schaubild Der Mensch als Industriepalast , sein berühmtestes Werk. Wir blicken in das Innere eines Menschen, das Kahn als komplexe Hochleistungsmaschine aus Pumpen, Schaltzentralen, Förderbändern, Motoren und Röhren illustriert hat. Anstelle des Magens greifen die Mechanismen einer Raffinerie, in den einzelnen, hauptsächlich im Gehirn angesiedelten Organisationsabteilungen sitzen winzige Menschen, sie drücken Knöpfe, betätigen Hebel, legen Schalter um.
Henning M. Lederer hat diese Illustration animiert. Den mit Maschinengeräuschen unterlegten Film kann man sich bei YouTube ansehen, man hört das gleichmäßige Rattern von Förderbändern, ein Zischen und Pfeifen, ein Rumoren überall.
Vielleicht ist es keine
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