Die Patin
in den Sehgewohnheiten der Westler ausgelöst. Da sie ihr wertentleertes Erfolgskonzept nicht aggressiv vortrug, sondern ganz entspannt ‹dabeihatte›, wirkte sie eher exotisch, wie von sehr weit her gekommen, als feindlich. Es dauerte Jahre, bis ihr Relativismus von einigen Wegbegleitern verstanden wurde. Die Blockade in den Köpfen der Kollegen beruhte auf Wunschdenken: Relativieren, das konnten sie alle – bis zu dem Verbotsschild, das bei Werten und Normen aufragte: pacta sunt servanda , stand da. Rechtsbruch als Privileg der Regierung: auf keinen Fall. Vertrauensbruch, geschredderte Versprechen, Täuschungsmanöver mit Wertzitaten, Missbrauch von Ethik und Moral zur Befriedung der ‹andern›, das machen Falschspieler.
Mit Angela Merkel kam die Meta-Ebene der Relativierung, das Verbotsschild verschwand. Relativismus in der Physik, wo es um die reale Welt geht, ist ein Kinderspiel verglichen mit den Spielräumen, die Relativierung im Reich der Werte und Normen öffnet. Führung darf alles, steht da in machtvollen Lettern, die nur die Machthungrigen lesen können. Merkels Relativismus der Erkenntnisse und Werte ist eine spezielle Variante von Hypermoral, die den Mächtigen besondere Lizenzen öffnet. Was wir wissen und bewerten, so Merkels ethischer Relativismus, gilt nie absolut. Es hängt ab von den Meinungen, die umlaufen, von den Zielen, die sie verfolgt, von der Verwendbarkeit der Menschen, die, anders als die Machthaberin selbst, in Wertekonflikten gefangen und dennoch für sie unentbehrlich sind.
Die unerledigte Auseinandersetzung zwischen großen Teilen der CDU und Angela Merkel gilt diesem Utilitarismus, der das gesamte Wertepotential je nach Bedarf wegschwemmt.
Mit Angela Merkel ist eine Frage auf die politische Tagesordnung gekommen, mit der die CDU einstweilen nur intuitiv, nervös und im Kern fassungslos umgeht: Es ist die Frage, ob der Wertekonsens, den alle bürgerlichen Parteien teilen, seine Gültigkeit verliert – zugunsten situativerUnberechenbarkeit aller Akteure und Motive. Dass der Konflikt nicht ausgetragen wird, nicht jetzt, hat mit seinem grundsätzlichen Gewicht zu tun. Die Kanzlerin arbeitet daran, dass er sich von selbst erledigen werde, durch Gewöhnung an das neue utilitaristische Wertkonzept.
Angela Merkel hat das Konzept von der überparteilichen, übernationalen Kanzlerin entwickelt. Sie führt ihr Amt wie einen Gemischtwarenladen: Produkte, die nicht gehen, werden aus dem Angebot genommen. Produkte der Konkurrenz, die besser laufen, werden kopiert. Die Kanzlerin sieht sich als Anbieterin in einem Meinungsmarkt, wo die Kundengunst über den Marktwert der Ware entscheidet.
Was Politik anbietet, sind aber nicht Waren. Es sind Entwürfe für Lebensqualität, soziale Sicherheit und Entfaltungsrechte. In den Entwürfen der Parteien werden nicht einfach Kundenbedürfnisse erfüllt und Konsumversprechen abgeliefert. Politische Angebote in der Demokratie beziehen sich immer auf den Kanon von Zusagen, die unsere Verfassung den Bürgern macht. Dieser Kanon beginnt mit dem höchsten virtuellen Gut, das nie in Geldwerten taxiert werden darf: der Würde des Menschen.
Wer Normen und Werte einer demokratischen Gesellschaft zur Manövriermasse macht wie Angela Merkel, der arbeitet am Zerfall der Demokratie.
Wer die Alarmzeichen dieses Politikstils abstellen möchte, spricht gern vom ‹moderierenden› Führungsstil der Kanzlerin. Sie moderiert den Wandel, der ohnehin abläuft, heißt es in solchen Entdramatisierungsgesprächen. Merkel sorge eher für einen softeren Verlauf der Abschiedsparty von dem Werteballast der bürgerlichen Mitte. Es gebe keinen Anlass, diese Ernüchterungsprozesse der immer noch ‹wertebesoffenen› Westler von gestern zu dämonisieren.
Man kann es mit dieser Lesart versuchen. Das System M ist Antipathos in höchster Perfektion. Die Kanzlerin als Chefin dieses Systems macht sich sogar die Mühe, den werteverliebten ‹anderen› regelmäßig mit zwei, drei Zitaten aus deren Wertebaukasten Entwarnung zu liefern: Ihr Atomausstieg war so ein Moment, für den ihr die Berater ein ganz persönliches ‹Hier stehe ich, ich kann nicht anders› aufgeschrieben hatten.Antipathos als Therapie – ein Modell, das sich gut argumentieren lässt: Werte machen Opfer, wenn man sich bedingungslos an sie bindet. Werte kosten Entscheider Tempo. Ein schlagendes Gewissen, Verfassungswert für Parlamentarier, isoliert die wenigen von den vielen, die ihr Gewissen zum Schweigen
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