Die Patin
riesige Kapitalbedarf ist kaum mehr zu bewältigen.» 207
Die Abwanderung von Energiefirmen hat begonnen. Die Deindustrialisierung Deutschlands bleibt auch für unsere Nachbarn nicht folgenlos. Polen und Tschechien «beschweren sich massiv darüber, dass deutscher Windstrom ihre Netze flutet». 208 Stromknappheit in Deutschland, wie sie im Süden und Südwesten nach den Abschaltungen der Kernkraftwerke auftritt, wird gehorsam verschwiegen. Viertausend Kilometer bestehender Leitungen, so der ‹Netzentwicklungsplan›, könne man eventuell leistungssteigernd ausbauen. Bürgerproteste wären dann haltlos.
Deutschland lässt sich ohne Widerstände autoritär regieren, das beweist die ‹Energiewende› bestürzend deutlich. Einer, der sich aus dem deutschen Meinungsdruck freigeschwommen hat, der ehemalige Ministerpräsident Günther Oettinger, liefert nun von Brüsel aus Klartext. Oettinger ist heute Energiekommissar der EU; er einnert daran, dass die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer Kernkraftwerke betreibt und weitere Meiler bauen wird. Atomstrom, so Oettinger, wird auch in Deutschland verbraucht. «Grenzkontrollen für Strom gibt es in Europa nicht», merkt der Energiekommissar an. 209 Die FAZ notiert allerdings zusätzlich ein Laisser-faire, das Oettinger ankündigt: ‹Sollte es in Deutschland zur Rückverstaatlichung von Energieunternehmen und Netzbetreibern kommen, wie es sich im Zuge der Energiewende derzeit abzuzeichnen scheint, dann will der Fürsprecher der freien Marktwirtschaft dagegen aber nicht einschreiten.› 210
Der Binnenmarkt in Europa, so meint Oettinger, funktioniere unabhängig davon, wem die Netze und Energiekonzerne gehören.
Aber der Binnenmarkt ist nicht die Welt. Ob die Wettbewerbsenergie im Herzen der Marktwirtschaft, die Energiewirtschaft, in der bündelnden Faust des Staates den freien Konkurrenten aus anderen Staaten überlegen sein kann, darf bezweifelt werden.
Für die Kanzlerin ist diese Frage irrelevant. Es geht um Langzeitprojekte; selbst die Nahziele liegen weit hinter ihrer Amtszeit. Sie folgt der Erfahrung, dass zentralistische Systeme von Auftritten stabilisiert werden, während Prozesse viel später erst einen Überblick gestatten, der Einsichten zulässt. Vierzig Jahre von der «Ostzone» bis in die «DDR» und die Deutsche Einheit haben gezeigt, wie lange Menschen brauchen, bis sie grundsätzlich gegen ein aufgezwungenes System entscheiden.
Die Kanzlerin setzt nach dem Interim von einem Wendejahr, in dem immer mehr aus dem Ruder lief, erneut auf spektakuläre Auftritte und symbolkräftige Maßnahmen, weil sie die Wirkung dieser Drogen kennt: Machtworte, Zentralisierung der Staatsgewalt in bürokratischen Behörden,Drohungen an die Spielverderber, ethische Aufladung ökonomischer Tollkühnheiten. ‹Sauberer› Strom aus Deutschland ist eben etwas teurer. Der Alleingang wird als stolze Pioniertat kostümiert.
Die journalistische Begleitmusik intoniert die Hymne zum illusionären Aufbruch: «Merkel erfindet ihre Kanzlerschaft neu», titelt das Handelsblatt . Die Kanzlerin, so der Autor, sei «in der energiepolitischen Realität angekommen». Energiepolitik sei «jetzt Chefsache». 211 Jetzt? Aber das energiepolitische Abenteuer, dem die Kanzlerin sich nach einem Jahr wieder zuwendet, ist doch ihr Produkt! Diese «Chefsache» gäbe es gar nicht, wenn es den Willkürakt der 180-Grad-Wende 2011 nicht gegeben hätte. Auch darauf setzt Merkel: dass ihr Publikum vergesslich ist.
Dass die deutsche Wendegesellschaft auch ihre Schönheitsbedürfnisse radikal umstellen sollte, weil sie in der Rangordnung der Merkel-Werte keinen erkennbaren Platz haben, scheint ein wichtiges Kapitel im Lehrbuch der Wendemoral zu sein: Wer sein windradnahes Zuhause wegen des Licht-Schatten-Taktes in den Wohnräumen aufgibt, wer gar glaubt, neben dem Licht-Schatten-Spiel auch ein Surren, einen Metronomschlag der ‹sauberen› Energie zu hören, der wird sich, mit Röttgen gesprochen, «am Rande der Gesellschaft» wiederfinden. Wer gar das Plädoyer für den Feldhasen anstimmt, der als Windparkbewohner im Streberland nicht mitspielt, wer das «Seestück mit Windmühlen» von seiner Nordseeinsel aus auch bei gutem Willen nicht romantisch finden kann, wird kaum eine größere Lobby für seinen Verlustschmerz finden.
Oder doch? Der Phantomschmerz muss umgepolt werden – für drohende Verluste, die regierungsamtlich totgeschwiegen werden. Die Kanzlerin rechnet wieder einmal mit unserer Unfähigkeit zu
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