Die Patin
ermöglichen soll.» 216
Die Kanzlerin hat den Weg zur Zentralmacht in Europa mit schwer lesbaren Zeichen markiert. Das System M etabliert eine leise Variante autoritärer Machtentfaltung, die Deutschland so noch nicht kannte. Die Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts boten andere Erfahrungen, was den politischen Stil angeht – obwohl die Anklänge nicht zu leugnen sind: die Marginalisierung der Parteien, der Themenmix aus enteigneten Kernbotschaften anderer Lager in der Hand der Regentin; ihre Nonchalance im Umgang mit dem Parlament, mit Verfassungsgarantien, Rechtsnormen und ethischen Standards. Der Anspruch, das deutsche ‹Bremssystem›, eine Mischung aus Präpotenz und Symbolpolitik, zum Durchgriff auf das Budgetrecht beliebig vieler europäischer Länder auszubauen, ist wieder eine von den geräuschlosen Sprengungen, die Umsturz als Regierungsprivileg durchsetzen.
Der autoritäre Sozialismus, der im System M angelegt ist, nimmt eine Hürde nach der anderen, weil er auf Gewöhnung setzt. Der leiseste aller Übergänge bereitet sich vor ohne laute Appelle. No commitment ist das Motto. Kein Bekenntnis zu Deutschland oder Europa., nur ein bisschen mehr statt weniger von beiden: eben ein deutsches Europa. Keine Leidenschaft, kein Credo, kein Bekenntnis. Sie alle lassen wir hinter uns in der Alten Welt. Kein mission statement , das die Größe des Projektes verrät. Es kommt ‹wie ein Dieb in der Nacht›.
Welche Gruppierung kann noch opponieren mit Verweis auf ihre Identity ? Wo Markenkerne entwendet und neu kombiniert werden, kann auch die Partei, aus der die Täterin ihre Jagdausflüge unternimmt,die CDU, nicht mehr auf Patentschutz für ihre Identität bestehen.
Der Allparteien-Staat hat lauter gesichtslose Parteien. Bald wird sich keine von ihnen mehr über Gesichtsverluste beklagen. Große Projekte gelten großen Visionen. Wer ein Geheimprojekt verfolgt, kann von seiner Vision nicht sprechen. Logische Folgerung: Er braucht keine.
Über Angela Merkels visionäres Profil wissen wir nichts. Sie arbeitet seit ihrem Auftreten an ihrer Flexibilität; wer sie auf eine Idee festlegen will, muss scheitern.
Für die deutsche Kanzlerin hat sich die Abstinenz gegenüber Ideen und Visionen als Karriere-Treibsatz erwiesen.
Das Fazit: In Deutschland kann man seit der Einigung politisch an die Spitze rücken, wenn man als Asket an allen Vorgaben vorbeizieht, von denen sich die Mitspieler aus der alten Westwelt aufhalten lassen: Rechtsnormen und Verfassungswerte, Verträge und Wettbewerbsfreiheit, ethische Standards und moralischer Grundkonsens.
Arnold Gehlen hat in ein einziges Wort gefasst, was verlorengeht, wenn man die Spielregeln kündigt, die alle Wettbewerber miteinander verbinden und handlungsfähig machen: Das Wort heißt ‹Hintergrundserfüllung›.
Angela Merkel fährt in Wahrheit ein riskantes Experiment: Es könnte ‹Vordergrund statt Hintergrund› heißen. Gäbe es die Krisen nicht, Biotop für Tarnkappenträger, dann wäre das Experiment schon gescheitert. Zukunft ohne Herkunft sichern: Das ist ein Projekt für den Umsturz.
Nun hat sich aber im Abendrot der Freiheit, als Schlussakkord der ‹Präsidentendämmerung›, ein Finale ereignet, das die ‹Hintergrundserfüllung› wieder auf die Tagesordnung der deutschen Geschichte bringt. Die Selbstermächtigung der deutschen Politik wird seither von einer Freiheitsmelodie übertönt, die viele von uns wiedererkennen. So stehen nun zwei Folgerungen aus Deutschlands Geschichte nebeneinander – wir können wählen.
193 Bernd Ziesemer, «Die schleichende Entmachtung des Parlaments», Handelsblatt , 6. Juni 2011.
194 Siehe dazu das Kapitel «Die ‹Energiewende›: Merkels Moratorium der Demokratie», S. 106ff.
195 Jakob Augstein, «Margaret Merkel? So ein Quatsch!», www.spiegel.de , 1. März 2012.
196 Jakob Augstein, «Margaret Merkel? So ein Quatsch!», www.spiegel.de , 1. März 2012.
197 Siehe dazu S. 154–164.
198 So Röttgen, damals Umweltminister, gegen den RWE-Chef, Grossmann, der auf die Gesetzesbrüche im Zuge der Regierungsattacke auf die Energiebranche hinwies.
199 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 28. Februar 2012, 2 BvE 8/11 Pressemitteilung Nr. 14/2012.
200 Vgl. dazu «Missachtung von Spielregeln», Handelsblatt , 29. Februar 2012.
201 Ebenda.
202 Handelsblatt, 12. März 2012, S. 1.
203 Vgl. dazu die auf S. 000 zitierte Analyse.
204 Vgl. dazu FAZ , 19. Mai 2012, S. 1.
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