Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
Altweisen«, verkündete er.
Maerad spähte mit zu Schlitzen verengten Augen durch die zunehmende Düsternis. Die lange Reise mit all ihren Beschwernissen und Wundern hatte das Baumlied aus ihren Gedanken verdrängt. Es war eine Erleichterung gewesen, vorübergehend zu vergessen, wer sie war, und einfach nur mit Dharin und den Hunden zusammenzuleben. Nun kam ihr ihre Suche wieder in den Sinn, und Furcht schnürte ihr die Brust zu. Bald würde sie vielleicht einige Antworten erhalten. Das einzige Problem bestand darin, dass sie nicht sicher war, ob sie die richtigen Fragen kannte.
Zwanzigstes Kapitel
Inka-Reb
Als sie das Ufer der Insel erreichten, war die Dämmerung schon hereingebrochen. Dharin weigerte sich, bei Dunkelheit einen Fuß auf das Land der Altweisen zu setzen, und so lagerten sie für die Nacht auf dem Eis des Meeres. Das Wetter war klar und ruhig. Uber ihnen erwachten unzählige Sterne zum Leben. Maerad erschienen sie wie funkelnde, kalte Früchte, die sie nur vom Firmament zu pflücken brauchte. Gemeinsam fütterten sie die Hunde, danach setzten sie sich draußen auf den Schlitten und redeten, da sie das Zelt trotz der bitteren Kälte als zu beengt für eine solche Nacht empfanden. Es würde noch einige Stunden dauern, bis sie sich bereit zum Schlafen fühlten.
In der Ferne hörte Maerad ein seltsames Bellen, das durch die tiefe Stille rings um sie hallte. Die Hunde spitzten die Ohren, legten sich jedoch wieder hin, als Dharin ihnen befahl, ruhig zu bleiben.
»Was ist das?«, wollte Maerad wissen.
»Seehunde, vermute ich«, antwortete Dharin. »Unweit von hier muss sich ein Seehundlager befinden. Tja, das sind mal gute Neuigkeiten; ich werde die Altweisen fragen, ob ich dort jagen darf. Ich brauche mehr Fleisch für die Hunde.«
Die traditionellen Erzählungen der Pilanel über Reisen in den Norden beinhalteten die Höflichkeiten, die von Fremden bei einem Besuch der Altweisen erwartet wurden. Dharin wies Maerad in die verschiedenen Arten der nördlichen Völker ein, und sie lauschte ihm aufmerksam.
»Du musst wissen«, begann er in ernstem Tonfall, »dass diejenigen, die wir die Altweisen nennen, nur eines von vielen Völkern sind, die im kalten Norden leben. Die Pilani wissen von mindestens zwanzig verschiedenen Völkern an der Küste von Hramask zu berichten, von Orun bis Lebinusk, und wahrscheinlich gibt es noch mehr. Und du darfst nicht davon ausgehen, dass eine Gruppe der anderen gleicht: Sie pflegen verschiedene Sitten und Gebräuche und sprechen verschiedene Sprachen. Die Altweisen gelten als die ältesten von allen. Sie selbst bezeichnen sich als Inaruskosani, das bedeutet >die als Erste auf der Erde wandelten<.«
Maerad nickte und dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, wie wenig sie doch über Edil-Amarandh und dessen Völker wusste. Alles war wesentlich vielschichtiger, als sie je vermutet hätte; jedes Mal, wenn sie dachte, die Welt allmählich zu verstehen, eröffnete sich ihr ein neuer Blickwinkel und förderte neue Unwissenheit zutage.
Leise redete Dharin weiter, zählte die verschiedenen Namen der Völker des Nordens auf und berichtete, was er über ihre Gepflogenheiten wusste. Kämpfe unter den einzelnen Völkern gab es nur sehr selten; Dharin meinte, das läge daran, dass sie aufgrund ihrer rauen Lebensbedingungen keine Zeit für Kriege hätten.
Es gab, so erklärte er, eine gemeinsame Sprache namens Lirunik, deren sich die nördlichen Pilanel-Klans und die Völker des fernen Nordens bedienten, wenn sie sich miteinander verständigen mussten. Dharin beherrschte die Sprache seit seiner Kindheit, da sein Vater ein bedeutender Händler gewesen war und er sich als Übersetzer verdingt hatte.
Nach einer Weile breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Sie saßen einfach da, lauschten dem Grunzen der schlafenden Hunde und dem fernen Bellen des Seehundrudels. Ein zunehmender Mond warf sein kaltes Licht über das endlose weiße Meer. Im Süden erkannte Maerad einen rötlichen Schimmer am Horizont, wo die feurigen Berge von Irik-Ol das geschmolzene Herz der Erde ausspien. Alles an diesem Ort bestand aus Wasser, Eis, Feuer, Stein und Luft; neben derart gewaltigen Naturkräften nahmen sich die Sorgen und Nöte der Menschen belanglos aus. Sie spürte, wie sich ein wohliger Friede in ihrer Brust ausbreitete. Nachdem sie eine Weile beisammen gesessen waren, spürte Maerad ein Kribbeln auf der Haut. Gleichzeitig nahm sie ein merkwürdiges Geräusch wahr, konnte jedoch nicht
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