Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
die unversehrt zu ihrem Bestimmungsort gebracht werden musste. Die Schlitten hatten angehalten, und wie jede Nacht wurde Maerad in eines der Jussack-Zelte gebracht und auf den Boden gelegt. Der Hexer trat ein, bückte sich in dem beengten Raum und untersuchte sie. Maerad spürte seinen Blick und öffnete die Augen. Er war eindeutig ein Dhillarearen, und die Galle stieg ihr in die Kehle. An seiner Gabe fühlte sich etwas falsch an, wie sie es bei keinem anderen der ungeschulten Barden gefühlt hatte, denen sie begegnet war - weder bei Sirkana noch bei InkaReb. Aber er war kein Untoter. Irgendwie, dachte Maerad, war er etwas Schlimmeres: In ihm kräuselte sich Finsternis gleich giftigen Dämpfen. »Wer bist du, dass du mich so ansiehst?«, fragte sie in der Hohen Sprache. Ihre Stimme hörte sich heiser an, weil sie schon so lange nicht mehr geredet hatte. Der Hexer musterte sie mit ausdrucksloser Miene, wenngleich sie bemerkte, dass die Muskeln um seine Augen vor Abscheu zuckten. »Ich bin, wer ich bin«, erwiderte er. »Du bist zu unbedeutend, danach zu fragen.«
»Ihr habt meinen Freund ermordet«, sagte Maerad. »Warum habt ihr mich nicht getötet?«
»Du hast einen Mann getötet«, antwortete der Hexer. »Die Strafe dafür ist der Tod. Aber wir haben andere Pläne für dich. Die gehen dich nichts an.« »Ihr seid alle niederträchtige Mörder«, entgegnete Maerad. Ihr Verstand fühlte sich träge, schwerfällig an, und sie war zu müde, um zu streiten. »Und dieser Mann wäre nicht gestorben, wenn ihr uns nicht angegriffen hättet. Es ist eure eigene Schuld, dass er tot ist, nicht meine.«
»Das mag sein, wie es will«, meinte der Hexer. »Jedenfalls gehörst du jetzt uns.« »Ich gehöre niemandem.« Eine dumpfe Wut stieg in ihr auf. »Du hast kein Recht…«
Verächtlich sah er sie an. »Schweig still, Weib.«
Wäre Maerad im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, hätte sie ihn ohne Gewissensbisse ausgelöscht. So konnte sie ihn nur hasserfüllt anstarren und sich weigern, die Augen zu senken. Etwas in seinem Blick zuckte, und statt sie herauszufordern, wandte er sich ab.
»Warum habt ihr mich gefangen genommen?«, verlangte Maerad zu erfahren. »Wohin bringt ihr mich?« Doch der Mann wollte ihr nicht antworten. Stattdessen nahm er sie in Augenschein wie ein Stück Vieh, sah sich ihre Zähne an, schaute ihr in den Mund und überprüfte ihre Glieder. Erzürnt über die Erniedrigung biss Maerad ihm in die Hand, und er schlug ihr ins Gesicht, aber nur mit halbherziger Heftigkeit. Was er sah, missfiel ihm unverkennbar, und er sprach in scharfen Tönen mit dem für Maerad verantwortlichen Jussack, der zitternd neben ihm stand und voller Furcht und Demut das Haupt neigte. Der Hexer hob ihre linke Hand an und drückte sie. Ein wenig Gefühl kehrte in sie zurück, vorwiegend Schmerz. Dann erteilte er dem anderen Jussack offenbar eine lange Reihe von Anweisungen und verließ das Zelt.
Danach verbesserte sich ihre Lage geringfügig. Maerad erhielt mehr Felle und brauchte nicht mehr so sehr Kälte zu leiden. Außerdem nahm man ihr die Fesseln ab, sodass sie auf dem Schlitten mehr Bewegungsfreiheit hatte. Sie spielte mit dem Gedanken, sich in den Schnee zu werfen, doch es gab keine Möglichkeit, dies ungesehen zu tun, folglich würde man sie sofort aufgreifen und wahrscheinlich wieder fesseln.
Sie stellte fest, dass auch Dharins Schlitten mit ihnen zog. Er wurde von einem der anderen Jussacks gelenkt. Sie fragte sich, was aus den Leichnamen von Fang und Dharin geworden war; sicher hatte man sie unbetrauert und unbegraben im Schnee zurückgelassen. Der Gedanke quälte sie. Wo mochte ihr Bündel sein, wo ihre Leier? Sie mussten sich noch auf dem Schlitten befinden … Aber Maerad war noch zu müde, um ausführlicher zu grübeln, und ihre Gedanken verschwammen zu einem chaotischen Gewirr.
Sie stand unter einem Bann, den sie nicht kannte, der sie lähmte und ihr Übelkeit bereitete. Der Zauber stammte von dem Hexer, und sie begann, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Sie spürte den Widerstand seines Willens und war sicher, dass sie eine stärkere Dhillarearen war als er; und dennoch, so sehr sie es versuchte, sie vermochte den Bann nicht zu brechen. Er hielt sie gefangen.
Bisweilen vermeinte Maerad, in einigem Abstand fahle Schatten parallel zu den Schlitten rennen zu sehen. Sie sahen aus wie Wölfe, doch wenn sie versuchte, den Blick unmittelbar auf die Bewegung zu richten, erblickte sie nur kahlen Schnee. Niemand sonst
Weitere Kostenlose Bücher