Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
ihr dies keine Angst ein, was sie verwirrte; eigentlich hatte sie mehr Grund, sich zu fürchten, als je zuvor, seit sie aus Gilmans Feste geflohen war. Vielleicht hatte sie so viel durchgemacht, dass sie Dinge, die sie früher ängstigten, mittlerweile als harmlos empfand. Oder vielleicht vertraute sie diesem jungen Mann irgendwie.
Nim hatte sie ihre ganze Krankheit hindurch gepflegt und gewaschen, obwohl ihn derlei Aufgaben demütigten. Der Gedanke an jene persönliche Nähe ließ sie erröten. Er hätte sich ihr gegenüber nicht freundlich zeigen müssen, dennoch hatte er es getan. Und er war ihr stets mit Respekt begegnet. Es mochte daran gelegen haben, dass er den Zorn des Winterkönigs fürchtete, sollte sich ihr Zustand verschlechtern und sie sterben, doch inzwischen glaubte Maerad eher, dass es sich um schlichte Liebenswürdigkeit gehandelt hatte.
»Bringt ihr mich wirklich nach Arkan-da?«, fragte sie. »Du meinst damit zum Winterkönig, richtig?«
»Ich glaube, so nennen die Pilanel den Eiskönig, mögen sie verflucht sein.« Maerad schwieg eine Weile. »Warum verfluchst du sie? Es sind gute Menschen«, sagte sie schließlich. »Mein Vater war ein Pilani.«
Jäh schaute Nim auf. »Tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe. Die Pilanel haben uns unser Land weggenommen. Wir wollen es zurück.«
»Und wer hat dir das gesagt?«, hakte Maerad neugierig nach. »Die Pilanel weilen seit Anbeginn der Zeit in Zmarkan. Sie können euch euer Land nicht weggenommen haben. Und außerdem, ist in Zmarkan nicht reichlich Platz für euch alle?«
»Jeder weiß, dass es stimmt«, entgegnete Nim mit unumstößlicher Überzeugung. »Sie sind ein böses Volk.«
Maerad wollte unbedingt ihr Bündel zurück und ihn daher nicht gegen sich aufbringen, daher ließ sie es dabei bewenden. Aber die nächtliche Unterhaltung hatte ihr etwas beschert, worüber sie am nächsten Tag nachdenken konnte, als sie für einen weiteren Abschnitt ihrer endlos anmutenden Reise in den Schlitten gesetzt wurde.
Wenngleich Maerad halb damit gerechnet hatte, dass Nim nicht Wort halten würde, brachte er ihr am nächsten Abend ihre Leier in der Lederhülle. Das Bündel hatte er nicht dabei. Ehrfürchtig, mit vor Bewegtheit zitternden Händen holte sie das Instrument hervor, zeigte es ihm und strich mit den Fingern leicht über die Saiten, um einen leisen Akkord anzuschlagen. Seine Augen weiteten sich verwundert. »Ich wollte, ich könnte spielen«, flüsterte Maerad.
»Das wünschte ich auch«, erwiderte er. »Ich habe noch nie so wunderschöne Klänge gehört.«
»Danke, Nim«, sagte Maerad. »Das werde ich dir nie vergessen.« Sie schaute auf und erblickte in Nims Augen eine frisch erwachte Sehnsucht, die in ihr Mitleid für ihn wachrüttelte.
»Vielleicht kannst duja eines Tages nach Annar reisen«, meinte sie leise. »Dort leben gute Menschen. Sie sind nicht grausam wie Amusk. Und dann kannst du Musik hören.«
Plötzlich blickte Nim verlegen drein, fast verschämt. Er wandte sich ab und sprach an jenem Abend kein Wort mehr. Am nächsten Tag behandelte er sie grob, als er sie in den Schlitten verfrachtete. Dennoch verspürte Maerad ihm gegenüber deshalb keine Feindseligkeit; sie kannte den Schmerz erwachter Sehnsüchte. Einst hatte sie sich ebenso wie Nim gegen die eigenen Gefühle geschützt. Und niemand würde Nim retten und ihm eine neue Welt zeigen, so wie Cadvan sie aus Gilmans Feste gerettet hatte. Allerdings, dachte sie traurig, würde sie selbst nun auch niemand mehr retten. Trotzdem fühlte sie sich durch ihre Leier etwas weniger hilflos. Wenngleich sie nicht darauf spielen konnte, liebkoste sie das Instrument nachts, ließ ihre geschwollenen Finger über die Runen gleiten und fragte sich, ob sie je erfahren würde, welches Geheimnis sich dahinter verbarg.
Nim hatte ihr erzählt, dass Amusk als mächtigster aller Jussacks galt. Maerad hatte darüber nachgedacht; es bedeutete, dass ihre Gefangennahme sorgsam geplant worden war, vermutlich nach dem Versagen des Sturmhunds und der Iridugul. Ihre Reise mit Dharin hatte von Anfang an unter einem finsteren Stern gestanden. Sie besann sich Sirkanas Traurigkeit, als sie sich von ihnen verabschiedet hatte, und war sicher, dass Sirkana Dharins Tod vorhergesehen hatte. Warum hatte sie ihn dann trotzdem mit Maerad gehen lassen? Doch sie scheute davor zurück, zu ausgiebig über Dharin zu grübeln; es beschwor zu viele schmerzliche Erinnerungen herauf. Dernhil, Cadvan, Dharin; Imi, Darsor und
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