Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
nicht verstehen.
»Was?«, flüsterte sie mit dem Gesicht dicht vor dem seinen.
»Es tut nicht weh. Hab keine Angst.« Dann schauderte er und erschlaffte. Seine Augen rollten nach oben, und Maerad wusste, er war tot. Sie schloss ihm mit den Fingern die Lider und küsste ihn auf die Stirn. Dabei musste sie daran denken, wie sie vor vielen Jahren dasselbe bei ihrer Mutter gemacht hatte. Lastete ein Fluch auf ihr, dass sie den Tod jedes Menschen heraufbeschwor, der sie liebte?
Sie hatte die Aufmerksamkeit so sehr Dharin gewidmet, dass ihr das Geheul seines Gespanns entgangen war. Die kläglichen Laute hallten unerträglich wie der Klang ihres eigenen Kummers. Maerad stand auf und sah, dass die Jussacks den Schlitten bereits fast erreicht hatten und über den Schnee auf sie zukamen. Zuvorderst gingen zwei, dahinter weitere vier. Sie zog das Schwert. Sie fürchtete sich nicht mehr. Ihr war alles genommen worden. Sie hatte versagt. Alles, was vor ihr lag, war Finsternis.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Fang an ihrem Geschirr nagte und sich davon zu befreien versuchte. Sie sah aus, als wollte sie jedem Jussack die Kehle herausreißen, der sich ihr näherte. Maerad empfand ähnlich wie Fang: Sie würde bis zum Tod kämpfen, weil sie nur noch den Tod übrig hatte. Mit einem Schwerthieb entfesselte sie den mächtigen Hund von den hinderlichen Riemen, dann sprang sie mit einem wilden Schrei vom Schlitten und war plötzlich froh darüber, dass sie sterben würde.
Die Jussacks ragten fast doppelt so hoch auf wie Maerad, doch mit der Heftigkeit ihres Angriffs hatten sie nicht gerechnet. Dem ersten, der sich ihr näherte, trennte sie mit einem beidhändigen Streich den Arm ab, ehe sie zurücksprang und herumwirbelte, um sich dem nächsten zu stellen. Der aber blieb zurück und außerhalb der Reichweite ihrer Klinge, bis die übrigen Schlitten eintrafen und sich ihm weitere Jussacks anschlossen. Der Mann, den sie verstümmelt hatte, lag auf dem Boden, krümmte sich und brüllte wie am Spieß, während Blut aus seinem Körper schoss und dampfend im Schnee versickerte. Urplötzlich stieg hinter Maerad ein riesiger Schemen auf und stürzte sich knurrend auf den Verwundeten. Es war Fang, von deren Geschirr noch die durchschnittenen Riemen hingen. Der Mann auf dem Boden kreischte gellend, dann verstummte er. Der zweite Jussack stürmte auf Fang zu und hieb ihr mit seiner Keule auf den Schädel, während Maerad schreiend auf ihn zurannte. Fang drehte sich knurrend um und setzte zum Beißen an, doch dann kippte sie langsam wie in einem Traum seitwärts in den Schnee und rührte sich nicht mehr. Von neuer Wut erfüllt sprang Maerad auf den Jussack los, aber er wich abermals vor ihrem Schwert zurück und wich einem Kampf aus; in jenem Augenblick trafen die übrigen Jussacks bei ihnen ein. Sofort erkannte Maerad, dass unter ihnen ein Hexer war, doch er übte eine Magie aus, der sie noch nie begegnet war. Er hob die Hände und sprach Worte, die sie nicht verstand; mit einem Schlag verschwamm Maerads Bewusstsein, und sie stürzte in eine schlafähnliche Dunkelheit. Wie benommen stand sie da, und das Schwert fiel ihr aus der tauben Hand zu Boden. Deshalb haben meine Kräfte versagt, dachte sie noch verwundert. Dann schien dunkler Rauch in ihren Verstand zu dringen und ihn auszufüllen; sie setzte sich zur Wehr, versuchte, sich zu bücken und das Schwert aufzuheben, aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Ist das der Tod ?, fragte sie sich. Also hatte Dharin recht… Es tut nicht weh…
Dann überwältigte die Dunkelheit sie, und Maerad wusste nichts mehr.
Vierter Teil
Arkan-da
Auf denn stand der Herr der Wölfe,
Nardo, tapferster der Seinen,
Wilder Jäger, samtbepfotet,
Sänger, furchtlos unterm Mondschein.
Hoch, dass alles Volk ihn hörte,
Auf dem Gipfel Idrom Uakins
Zu dem Schneehasen und dem Adler,
Zu dem Elch und flinken Zanink,
Zu den schwindenden Pferdeherden,
Zu den Rentieren, matt vor Hunger,
Sprach er mit des Donners Stimme:
»Unserer Leiden wegen will ich
Zu der dunklen Feste reisen,
Zu den fernen Trukuch-Bergen,
Wo des Eises König waltet.
Wetters Wandel will ich suchen,
Winters Grimm zu Frühlingswehen
Hagelschlag zu sanftem Sommer.
Schnellstes aller Tiere bin ich,
Tödlichster von allen Kämpfern.
Tod nicht furcht ich und was nachfolgt,
Also nehm ich dieses auf mich.«
Aus Das Kilibrikim (Pilanel-Folklore, Bibliothek von Lirigon)
Zweiundzwanzigstes
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