Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
den Bergen vorbeifegte, die höher und bedrohlicher wurden, je weiter sie fuhren.
Ich spüre dich, mein Feind, dachte sie nachts. Ich spüre dich immer näher. Bald werde ich dir ins Antlitz blicken können. Etwas in ihr lachte, doch es war kein freudiges Gelächter, sondern der Trotz eines Geistes, der dem sicheren Tod entgegensah und den nichts mehr kümmerte. Ich werde nicht als Sklavin sterben, sagte sie sich. Zumindest dabei werde ich nicht versagen.
Am Tag, bevor sie Arkan-da erreichten, rollte dichter Nebel aus den Bergen herab und umfing die Schlitten mit einer gespenstischen weißen Stille. Ihre Geschwindigkeit verlangsamte sich, und Nim wurde vorausgeschickt, um den Weg auszukundschaften. Maerad saß teilnahmslos vor ihm im Schlitten. Der Nebel schien voller Furcht erregender Erscheinungen zu sein, die sich auflösten, wenn sie sich ihnen näherten, außerdem hörten sie schauerliche Geräusche, die sich anhörten, als ächzten und schrien die Felsen selbst vor Schmerzen oder Wut. Maerad spürte die Angst der Männer in den Schlitten hinter ihnen. Auf sie selbst hingegen zeigten die Erscheinungen und Geräusche keinerlei Wirkung; nichts vermochte sie noch zu ängstigen. Sie lehnte sich gegen den Bann des Hexers auf und konnte fühlen, wie Amusk schwächer wurde. Sogar er hat Angst, dachte sie. Er will immer noch Leben, will Macht auf dieser Welt. Ich nicht, deshalb fürchte ich mich nicht.
In jener Nacht sprachen Nim und Maerad zum letzten Mal miteinander. Maerad durchsuchte ihre Kleider; sie wollte ihm unbedingt etwas schenken. Schließlich nahm sie ihre silberne Lilienbrosche ab, das Zeichen, das sie als eine Bardin Pellinors auswies. Er würde sie vor den anderen verstecken können, und Maerad brauchte sie nicht mehr. Sie strich darüber und dachte an die gutmütige, wenngleich strenge Frau, von der sie die Brosche erhalten hatte: Oron, Oberste Bardin von Inneil.
Wahrscheinlich würde Oron es nicht für unangebracht halten, dass sie dieses Andenken als Dank für die ungeschliffene Freundlichkeit verschenkte, die Nim ihr entgegengebracht hatte. Schließlich hatte Maerad in Inneil zum ersten Mal den Wert menschlicher Güte erfahren. Sie erinnerte sich noch an Silvias Worte: Das Gesetz besagt, dass Hungrige ernährt, Obdachlose mit Unterkunft versorgt und Kranke geheilt werden müssen. Das ist die Gesinnung des Lichts. Maerad lächelte eingedenk der ihrer bitteren Gegenwart so fernen Erinnerung und strich ein letztes Mal mit den Fingern über das Lilienzeichen von Pellinor. »Nim«, sagte sie, »das hier ist für dich.« Damit reichte sie ihm die Brosche. Verwundert, mit sich weitenden Augen nahm er sie entgegen. »Das ist wunderschön«, sagte er. »Ein kostbares Ding. Aber ich habe nichts, was ich dir im Gegenzug geben könnte.«
»Du hast mir schon so viel gegeben«, erwiderte Maerad. »Das ist ein Zeichen meiner Dankbarkeit. Du bist freundlich zu mir gewesen. Das hättest du nicht sein müssen.«
Sie beobachtete, wie ihm Röte über den Hals ins Gesicht stieg und er die Brosche linkisch verschwinden ließ, indem er sie in seine Kleider steckte. »Das werde ich dir nicht vergessen«, sagte er und wandte sich ab. Die Sonne schien es nicht mehr zu geben. Die Tage ließen sich nur noch von den Nächten unterscheiden, weil die Schatten etwas weniger dunkel wirkten. Der Nebel verhüllte die Schlitten so dicht, dass sie kaum noch sichtbar waren. Auch keine Sterne gab es; vom Boden stieg ein weißer Schimmer auf, als wäre er selbst eine Lichtquelle, und dies war das Einzige, was sie davor bewahrte, sich durch völlige Finsternis bewegen zu müssen.
Als sie an jenem Morgen losgefahren waren, hatten die Gespanne sich nach Süden gewandt, um einen schmalen Gebirgspass entlangzulaufen. Die stehenden Steine tauchten abwechselnd aus dem Nebel auf und verschwanden wieder darin. Maerad musste dabei an jene denken, die sie entlang des Gwalhain-Passes gesehen hatte: Vor längst vergangenen Zeiten musste dasselbe Volk diese Straße gebaut haben. Die Luft war windstill und klirrend kalt.
Maerad saß in Nims vor den anderen fahrendem Schlitten und hielt ihre Leier zwischen den Knien. Ihr war schwindlig, sie konnte nicht klar denken; in ihrem Geist fühlte sie die Nähe des Winterkönigs, jenes Schattens, der sie bedrückt hatte, seit sie den ersten Fuß nach Zmarkan gesetzt hatte. Wogen der Schwärze schlugen über ihr zusammen; sie versank darin wie damals nach ihrer Gefangennahme, und als sie wieder erwachte,
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