Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
kreisten darum, was sie in Arkan-da erwarten würde.
»Ich weiß nicht viel von der Welt«, gestand Nim schließlich und riss sie aus ihrer Grübelei. »Vielleicht hast du recht. Du kennst verschiedene Völker und Sprachen. Alles, was ich kenne, sind mein eigenes Volk und meine eigene Sprache.«
»So viel weiß ich auch wieder nicht«, gab Maerad schläfrig zurück. »Einige Leute haben mir ein paar Dinge beigebracht.«
»Tja, da hattest du Glück«, meinte Nim. »Womöglich sind es Lügen, die man sich über die Pilanel erzählt. Aber würden wir aufhören, sie zu bekriegen, wenn es keine Lügen gäbe?«
»Vielleicht schon.« Maerad stützte sich auf einen Ellbogen und sah ihn an. »Vielleicht aber auch nicht«, entgegnete Nim. »Ich weiß es nicht.« »Vielleicht wirst du eines Tages zum großen Häuptling und bereitest dem ein Ende«, schlug Maerad vor.
»Und vielleicht besuche ich dich dann in Annar.«
Sie lächelten einander an; beide wussten um die Unmöglichkeit dessen, was sie gesagt hatten. Einen Augenblick lang glichen sie Kindern, die ein Spiel spielten, bei dem sie sich für kurze Zeit vor der grausamen Welt der Erwachsenen verstecken konnten.
Am nächsten Tag erblickte Maerad in der Ferne vor ihnen eine Gebirgskette, einen gedrungenen, purpurnen Schemen, der auch eine Wolkenbank hätte sein können. Nim verriet ihr, dass es sich um Berge handelte, um eine Kette, die von seinem Volk Trukuch genannt wurde. Das Gelände begann anzusteigen, ging in Hügel und niedrige Vorberge über. Maerad sah erst Zwerghaselhölzer, die durch die Schneekruste ragten, später Fichten- und Tannenhaine.
Immer näher rückten die Berge, bis sie in deren Schatten ostwärts entlang einer durch stehende Steine gekennzeichneten Straße auf Arkan-da zufuhren. Das Trukuch-Gebirge erhob sich zu ihrer Rechten gleich scharfen Klingen vor dem düsteren Himmel, und Maerads Mut sank auf einen neuen Tiefstand. Die Felswände erinnerten an die äußeren Wälle einer riesigen Festung. Nach und nach erkannte sie, wie töricht der Gedanke gewesen war, sie könnte aus der Feste des Winterkönigs fliehen, nachdem sie sich darin befände. Der Funke Hoffnung, den ihr die Freundschaft mit Nim verliehen hatte, löste sich auf und verpuffte.
Ihr fortwährendes stummes Ringen mit dem Hexer nahm für kurze Zeit eine neue Intensität an. Es erfüllte sie mit boshafter Genugtuung zu beobachten, dass seine abgezehrten Züge immer gräulicher wirkten, seine Augen blutunterlaufen, seine schmalen Lippen immer dünner. Dennoch behielt er die Oberhand; sie konnte sich gegen seinen Bann auflehnen, ihn jedoch nicht brechen. Aber vielleicht war sie imstande, den Hexer selbst zu brechen.
Sie hasste Amusk mit einer Inbrunst, in die all ihre Trauer und Liebe für jeden geflossen war, den sie verloren hatte. Nur allzu gern hätte sie ihn so sehr beansprucht, dass sein Herz zersprang, er zu Boden stürzte und blicklos in den Himmel starrte, während ihm das in der Kälte dampfende Blut aus dem Mund lief und den Schnee so besudelte wie Dharins Blut einst. Die Vorstellung bereitete ihr grimmiges Vergnügen. Aber Amusk zerbrach nicht.
Als sie in die Nähe der Berge gelangten, fanden fast keine Unterhaltungen mehr zwischen Nim und Maerad statt. Zudem wirkte Nim angespannt, aus Gründen, die Maerad nur erahnen konnte, und er gebarte sich ihr gegenüber so barsch wie damals nach ihrer Gefangennahme. Maerad störte sich nicht daran; sie war darüber hinaus, sich noch Gedanken über das eigene Los zu machen. Stattdessen verspürte sie eine wachsende Freude darüber, dass sie ihrem Feind bald von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten würde. In der Meerenge von Thorold hatte der Winterkönig den Sturmhund gegen sie entsandt, am Gwalhain-Pass hatte er Cadvan getötet, und zuletzt hatte er Dharin gemeuchelt. Vermutlich wusste er so wie Inka-Reb über die Zeichen auf ihrer Leier Bescheid und wollte sie in seinen Besitz bringen. Was immer er tatsächlich wollte, Maerad hatte nicht vor, seine Wünsche zu erfüllen. Da er solchen Bedacht auf ihr Überleben gelegt hatte, war sie überzeugt davon, dass ein sicherer Weg, ihn zu enttäuschen, darin bestand, den eigenen Tod herbeizuführen.
Allerdings war sie bereits zu dem Schluss gelangt, dass sie dies nicht tun konnte, solange sie sich noch in Nims Obhut befand; die Vorstellung, seinen darauf unvermeidlich folgenden Tod auf dem Gewissen zu haben, konnte sie nicht ertragen. Und so wartete sie, während der Schlitten an
Weitere Kostenlose Bücher