Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
Zerstörung, diesem schrecklichen Chaos verstecken. Hätte sie vermocht, sich in der Erde zu vergraben, sie hätte es getan.
Dann vernahm sie über all dem Tosen so deutlich wie in einem stillen Raum die Stimme des Winterkönigs.
Seine Stimme klang freundlich und traurig. Elednor, sagte er. Elednor, warum hast du mich verraten ? Komm zu mir zurück. Komm zurück, wohin du gehörst. Ich allein brauche dich…
Maerad krümmte sich in den Boden, wand sich vor Grauen, Verlangen und Scham. Ihr Mund war voll verwelktem Farn und gefrorener Erde. In ihrem Geist sah sie mit schauerlicher Deutlichkeit das Antlitz des Winterkönigs, seine fahle Schönheit, seinen dunklen Zorn; und sie dachte sich zurück, wie seine Berührung sie mit Begierde erfüllt hatte. Neben jenen Erinnerungen erschien alles -sogar ihr eigenes Leben - plötzlich belanglos und inhaltsleer. Ich wollte es nicht, schrie sie in den tauben Boden. Ich wollte nicht flüchten.
Antworte ihm nicht. Ardina zwickte sie in die Schulter, und Maerad schaute benommen in ihre Augen auf, in denen ein rotes Feuer loderte. Antworte ihm nicht, wiederholte sie, die Zähne zu einem Knurren gebleckt. Er wird wissen, wo du bist.
Maerad rappelte sich auf die Füße und stand kläglich vor Ardina, den Kopf vor Scham geneigt. Ich glaube, das habe ich bereits.
Abermals zwickte Ardina sie und scheuchte sie die Rinne entlang. Dann bete, dass deine Stimme ihn nicht erreicht hat. Hast du seinen Namen ausgesprochen?
Nein, antwortete Maerad.
Na ja, dann hat er dich vielleicht nicht gehört. Wir haben es nicht mehr weit. Beeil dich, beeil dich…
Blind vor Elend stolperte Maerad durch die Wirren des Sturms. Was immer ich tue, es ist falsch, dachte sie verbittert. Der Winterkönig hat recht, ich bin eine Verräterin. Allerdings nicht ihm gegenüber, sondern mir selbst. Aber wie kann ich mir treu bleiben, wenn all meine inneren Wesen verschiedene Wahrheiten besitzen?
Mittlerweile konnte sie sich nicht mehr vorstellen, wie sie entkommen sollten. Es hörte sich an, als würde der Wald rings um sie in Stücke gerissen; hätten sie diese Rinne nicht gefunden, wären sie bereits vom Wind gehäutet, von den Ungetümen des Winterkönigs zerquetscht und vom Antlitz der Erde gefegt worden. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Zuflucht entdeckt wurde und sie zitternd vor den Thron des Winterkönigs geschleift wurden. Maerads Freude an ihrem Dasein als Wölfin war vollends erloschen; sie stolperte nur noch erschöpft vor sich hin, während ihre Vorderpfote brannte, als stünde sie in Flammen.
Schneller.
Ardina biss sie, und Maerad zwang sich voran, obschon sie spürte, wie ihre Beine unter ihr zitterten. Viel weiter konnte sie nicht mehr, selbst wenn ihr Leben davon abhing. Sie hörte ein Krachen dicht hinter ihnen, als ein riesiger, gewaltsam entwurzelter Baum quer über die schmale Rinne stürzte. Irgendwo in sich spürte sie einen weiteren Kraftvorrat auf. Frierend und bibbernd humpelte sie hinter Ardina drein, während nur noch der eiserne Wille ihr Bewusstsein ausfüllte, den sie brauchte, um eine Pfote vor die andere zu setzen. Plötzlich verschwand Ardina. Maerad blinzelte verdutzt und blickte um sich, konnte sie jedoch weder sehen noch riechen. Sie kauerte sich auf die Hinterläufe zurück, zu erschöpft, um darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte, zu erschöpft, um sich zu bewegen, sogar zu erschöpft, um Verzweiflung zu empfinden. Ardina hatte sie verlassen. Nun konnte sie nur noch abwarten. Dann jedoch tauchte Ardina knurrend und mit blitzenden Augen wieder auf. Was tust du denn da ?, fauchte sie. Komm hier rein.
Maerad schaute auf und sah, dass Ardina in ein Loch geklettert war, das sich über ihnen in der Böschung der Rinne befand. Mit dem Gefühl, als wäre es das Letzte, was sie je tun würde, gelang es Maerad irgendwie, den Eingang zu dem Loch zu erreichen und Ardina hineinzufolgen. Im Inneren roch es nach Erde und verrottendem Laub, außerdem verströmte die Höhle einen durchdringenden Tiergestank. Ardina befand sich bereits ein gutes Stück vor ihr.
Mit angelegten Ohren kroch Maerad weiter, immer tiefer in die Erde, bis sie der Eindruck beschlich, der Tunnel würde niemals enden. Die Umgebung fühlte sich an wie eine Gruft: kalt wie der Tod und pechschwarz. Letztlich würde sie einfach nicht mehr weiterkönnen und dort sterben; ihre Gebeine würden im Verlauf von Äonen zu Staub zerfallen, während die Jahreszeiten sich hoch droben in der Welt
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